Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
nur … vom Zorn überfallen worden.
Er hebt seine Geldbörse auf und sieht, dass die Kinder, die Schlagball gespielt haben, ihn mit offenem Mund anstarren. Er richtet seine Geldbörse auf sie, als wäre sie eine Art Schusswaffe mit schlaff herabhängendem Lauf, und der Junge, der den abgesägten Besenstiel hält, fährt zusammen. Dieses Zusammenfahren, mehr noch als der zusammenbrechende Leib, wird Ted noch mindestens ein Jahr lang im Traum verfolgen – und danach ab und an sein ganzes Leben lang. Weil er Kinder mag, niemals eines absichtlich erschrecken würde. Und er weiß, was sie sehen: einen Mann mit so weit heruntergezogener Hose, dass seine Unterhosen zu sehen sind (wer weiß, vielleicht hängt aus dem Schlitz sogar sein Pimmel raus, und wäre das nicht der endgültige magische Effekt?), einer Geldbörse in der Hand und einem bekloppten Ausdruck auf der blutigen Fresse.
»Ihr habt nichts gesehen!«, brüllt er sie an. »Hört ihr? Kapiert? Ihr habt nichts gesehen!«
Dann zieht er sich die Hose hoch. Dann geht er zu seiner Aktentasche zurück und hebt sie auf, aber nicht das Schweinekotelett in der braunen Papiertüte, scheiß auf das Schweinekotelett, er hat den Appetit ebenso verloren wie einen seiner Schneidezähne. Dann wirft er einen letzten Blick auf die Leiche auf dem Gehsteig und die verängstigten Kinder. Dann flüchtet er.
Was zu einem Lebensberuf wird.
5
Das Ende des zweiten Tonbands löste sich aus der Spule und machte leise fwip-fwip-fwip, während es kreiselte.
»Jesus«, sagte Susannah. »Jesus, dieser arme Mann.«
»Und alles so lange her«, sagte Jake und schüttelte den Kopf, als könnte er dadurch wieder klar denken. Ihm erschienen die Jahre zwischen seinem und Mr. Brautigans Wann als unüberwindbare Kluft.
Eddie griff nach der dritten Schachtel, klappte sie auf, damit das Tonband sichtbar wurde, und sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu Roland hinüber. Der Revolvermann machte mit einem Finger die vertraute kreisende Geste, die Los, los, weiter! besagte.
Eddie fädelte das Band durch die Tonköpfe. Das hatte er zuvor noch nie gemacht, aber dazu brauchte man auch kein Raketenwissenschaftler zu sein, wie es immer so schön hieß. Die müde Stimme hob wieder an, sprach aus dem Pfefferkuchenhaus, das Dinky Earnshaw für Sheemie geschaffen hatte: ein realer Ort, der rein aus Phantasie entstanden war. Ein Balkon an der Seite des Dunklen Turms, wie Brautigan ihn genannt hatte.
Als er den Mann umbrachte (versehentlich, dem hätten sie alle zugestimmt; sie lebten zwangsläufig mit der Waffe in der Hand und kannten den Unterschied zwischen versehentlich und absichtlich, ohne darüber diskutieren zu müssen), war es gegen 19 Uhr gewesen. Um 21 Uhr an diesem Abend saß Brautigan in einem nach Westen fahrenden Zug. Drei Tage später überflog er die Rubrik Buchhalter gesucht in einer Tageszeitung in Des Moines. Inzwischen wusste er einiges über sich selbst, war sich bewusst, wie vorsichtig er in Zukunft sein musste. Selbst wo Zorn gerechtfertigt gewesen wäre, durfte er sich den Luxus des Zorns nicht mehr erlauben. Normalerweise war er bloß ein Feld-Wald-und-Wiesen-Telepath – konnte einem sagen, was man zum Mittagessen gehabt hatte, konnte einem sagen, welche Karte die Herzkönigin war, weil der Kartenhai, der das Glückspiel an der Straßenecke veranstaltete, es wusste –, aber im Zorn verfügte er über diesen Speer, diesen schrecklichen Speer …
»Das ist übrigens nicht wahr«, sagte die Tonbandstimme. »Das mit dem bloßen Feld-Wald-und-Wiesen-Telepathen, meine ich, und das wusste ich bereits, als ich – noch feucht hinter den Ohren – zum Militär gehen wollte. Ich hatte nur kein Wort für das parat, was ich war.«
Wie sich zeigte, lautete das Wort Katalysator. Und er war sich später sicher, dass gewisse Leute – gewisse Talentsucher – ihn schon damals beobachteten, ihn einschätzten und wussten, dass er anders als die kleine Untergruppe von Telepathen war – aber nicht, auf welche Weise anders. Zum einen waren Telepathen, die nicht von der Fundamentalen Welt (das war ihr Ausdruck) stammten, eher selten. Zum anderen war Ted seit Mitte der Dreißigerjahre bewusst, dass das, was er hatte, tatsächlich ansteckend war: Berührte er Leute, während er sich selbst in einem Zustand emotionaler Erregung befand, wurden sie für kurze Zeit ebenfalls Telepathen. Was er damals noch nicht wusste, war die Tatsache, dass Leute, die bereits Telepathen waren, dadurch stärker
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