Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
kühlen Kopf bewahrt hatte – ihm freundlich, aber bestimmt erklärt, ihre Zukunft in Sheemie Ruiz’ Hände zu legen sei eine dämliche Idee? Total gaga, wie seine alten Schulkameraden auf der Piper School vermutlich gesagt hätten. Und nun wollte Roland, nach dessen Überzeugung es selbst im Schatten des Todes noch etwas zu lernen gab, dass Jake die Frage stellte, die er selbst vorgeschlagen hatte, und die Antwort würde ihn zweifellos als den abergläubischen Wirrkopf entlarven, zu dem er sich entwickelt hatte. Aber warum sollte er sie nicht doch stellen? Warum nicht, selbst wenn das dem Hochwerfen einer Münze entsprach? Jake war – möglicherweise am Ende eines kurzen, aber unbestreitbar interessanten Lebens – in eine Welt gelangt, in der es magische Türen, mechanische Butler, Telepathie (die er selbst in sehr beschränktem Umfang beherrschte), Vampire und Werspinnen gab. Weshalb sollte er also nicht Sheemie wählen lassen? Schließlich mussten sie den einen oder den anderen Weg nehmen, und er hatte schon zu gottverdammt viel mitgemacht, um sich Sorgen darüber zu machen, er könnte vor seinen Gefährten wie ein Idiot dastehen. Außerdem, dachte er, wenn ich nicht hier unter Freunden bin, bin ich’s nirgends und nie.
»Sheemie«, sagte er. In diese blutunterlaufenen Augen zu blicken war entsetzlich, aber er zwang sich trotzdem dazu. »Wir sind mit einem Auftrag unterwegs. Das heißt, dass wir eine Aufgabe haben. Wir …«
»Ihr müsst den Turm retten«, sagte Sheemie. »Und mein alter Freund soll ihn betreten und bis ganz oben hinaufsteigen, um zu sehen, was zu sehen ist. Vielleicht gibt’s eine Wiederaufnahme, vielleicht gibt’s den Tod, vielleicht beides. Er war einst Will Dearborn, aye, das war er. Will Dearborn für mich.«
Jake sah zu Roland hinunter, der weiter dahockte und in die Düsternis vor der Höhle starrte. Aber sein Gesicht war blass geworden und trug jetzt einen seltsamen Ausdruck, wie Jake fand.
Mit einem Finger machte Roland die kreisende Geste, die Los, weiter! bedeutete.
»Ja, wir sollen den Dunklen Turm retten«, sagte Jake. Und glaubte in diesem Augenblick, etwas von Rolands Begier zu verstehen, den Turm zu sehen und zu betreten, selbst wenn das seinen Tod bedeutete. Was lag im Mittelpunkt des Universums? Welcher Mann (oder Junge) konnte sich das nicht fragen, sobald diese Frage einmal angeschnitten war, und es mit eigenen Augen sehen wollen?
Selbst wenn dieser Anblick ihn zum Wahnsinn trieb?
»Aber damit wir das können, müssen wir zwei Aufgaben ausführen. Eine besteht darin, in unsere Welt zurückzukehren und einen Mann zu retten. Einen Schriftsteller, der unsere Geschichte erzählt. Von der anderen haben wir schon gesprochen: die Brecher zu befreien.« Aus Ehrlichkeit fügte Jake hinzu: »Oder sie sonst wie aufzuhalten. Verstehst du das?«
Diesmal gab Sheemie jedoch keine Antwort. Er starrte wie Roland in die Düsternis vor der Höhle hinaus. Sein Gesichtsausdruck war der eines Hypnotisierten. Bei diesem Anblick war Jake unbehaglich zumute, aber er machte weiter. Schließlich war er jetzt bei seiner Frage angelangt, und was blieb ihm anderes übrig, als sie auch tatsächlich zu stellen?
»Die Frage ist, welche Aufgabe sollen wir uns zuerst vornehmen? Den Schriftsteller zu retten scheint auf den ersten Blick leichter zu sein, weil es keine Gegner gibt … zumindest keine, von denen wir wissen … aber natürlich besteht die Möglichkeit, dass … na ja …« Jake wollte nicht Aber natürlich besteht die Möglichkeit, dass du als unser Teleporter ums Leben kommst sagen – deshalb dieser lahme und unbefriedigende Schluss.
Einige Augenblicke lang glaubte er, dass Sheemie keine Antwort geben würde und ihn damit vor die Entscheidung stellen, ob er es noch einmal versuchen sollte oder nicht, aber dann hob der ehemalige Saloonjunge doch wieder zu sprechen an. Er sah dabei allerdings keinen von den Anwesenden an, sondern starrte weiter aus der Höhle in die Düsternis Donnerschlags hinaus.
»Ich hab letzte Nacht einen Traum gehabt, das hatte ich«, sagte Sheemie von Mejis, dem drei junge Revolvermänner aus Gilead einst das Leben gerettet hatten. »Ich hab geträumt, ich war wieder im Travellers’ Rest, nur war weder Coral da noch Stanley, noch Pettie, noch Sheb – er, der das Pianer gespielt hat. Ich war ganz allein, und ich hab den Boden aufgewischt und dazu ›Careless Love‹ gesungen. Dann kreischten die Fledermausflügel, das taten sie, sie haben einen komischen Ton
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