Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
gemacht …«
Jake sah Roland mit der Spur eines Lächelns auf den Lippen nicken.
»Und wie ich aufsehe«, fuhr Sheemie fort, »kommt dieser Junge rein.« Sein Blick glitt kurz zu Jake hinüber, dann starrte er wieder in die Düsternis hinaus. »Er hat wie Ihr ausgesehen, junger Sai, das hat er getan, ähnlich genug, um Euer Zwilling zu sein. Aber sein Gesicht war voller Blut, und eines seiner Augen fehlte, was sein hübsches Aussehen verdorben hat, und er hat stark gehinkt. Hat wie der Tod ausgesehen, das hat er, und mich schrecklich geängstigt, aber es hat mich auch traurig gemacht, ihn so zu sehen. Ich hab einfach weitergewischt, weil ich dachte, er würde dann vielleicht nicht auf mich achten oder mich gar nicht sehen und wieder weggehen.«
Jake merkte, dass er diese Geschichte kannte. Hatte er sie miterlebt? War dieser Junge mit dem blutigen Gesicht tatsächlich er gewesen?
»Aber er hat dir ins Gesicht gesehen …«, murmelte Roland, weiterhin in der Hocke, weiterhin in die Düsternis starrend.
»Aye, Will Dearborn, der einst war, mir ins Gesicht gesehen, das hat er getan und dabei gesagt: ›Warum musst du mich verletzen, wo ich dich doch so liebe? Wo ich doch nichts anderes kann oder will, weil Liebe mich geschaffen und genährt hat und …‹«
»›Und in besseren Tagen am Leben erhalten‹«, murmelte Eddie. Aus einem seiner Augen fiel eine Träne, die einen dunklen Fleck auf dem Höhlenboden hinterließ.
»›… und in besseren Tagen am Leben erhalten. Weshalb fügst du mir Schnittwunden zu und entstellst mein Gesicht und erfüllst mich mit Leid? Ich habe dich nur um deiner Schönheit willen geliebt, wie du mich einst um meiner willen geliebt hast, bevor die Welt sich weiterbewegt hat. Jetzt zerkratzt du mich mit deinen Nägeln und träufelst mir brennendes Quecksilber in die Nase; du hast wilde Tiere auf mich gehetzt, das hast du, und sie haben von meinen Weichteilen gefressen. Um mich herum versammeln sich die Can-Toi, und es gibt keine Ruhe vor ihrem Gelächter. Trotzdem liebe ich dich weiterhin und würde dir dienen und sogar die Magie wieder herstellen, wenn du’s zuließest, denn dafür wurde mein Herz geschaffen, als ich aus der Prim entstanden bin. Und einst war ich stark und schön, aber jetzt ist meine Kraft fast erschöpft.‹«
»Du hast geweint«, sagte Susannah, und Jake dachte: Natürlich hat er das getan. Auch er weinte. Ted Brautigan und Dinky Earnshaw ebenfalls. Nur Roland standen keine Tränen in den Augen, aber der Revolvermann war bleich, so überaus bleich.
»Er hat geweint«, sagte Sheemie (dem Tränen übers Gesicht liefen, während er seinen Traum erzählte), »und ich hab auch geweint, weil ich sehen konnte, dass er schön wie der lichte Tag gewesen war. Er hat gesagt: ›Würde die Folter jetzt aufhören, könnte ich mich vielleicht wieder erholen – wenn auch niemals mein Aussehen, so doch meine Kraft …‹«
»›Mein Kes‹«, sagte Jake, und obwohl er dieses Wort noch nie gehört hatte, sprach er es richtig aus: fast wie kiss.
»›… und mein Kes. Aber in noch einer Woche … oder vielleicht schon in fünf Tagen … oder auch nur drei … ist alles zu spät. Dann sterbe ich, auch wenn die Folter aufhört. Und auch du wirst sterben, wenn nämlich die Liebe die Welt verlässt, stehen alle Herzen still. Erzähl ihnen von meiner Liebe und erzähl ihnen von meinen Schmerzen und erzähl ihnen von meiner Hoffnung, die noch lebt. Denn dies ist alles, was ich besitze, und alles, was ich bin, und alles, was ich verlange.‹ Damit hat der Junge sich umgedreht und ist rausgegangen. Und die Fledermausflügeltür hat wieder ihr Geräusch gemacht. Krei-isch.«
Jetzt sah er Jake an und lächelte wie jemand, der gerade erst aufgewacht war. »Kann Eure Frage nicht beantworten, Sai.« Er klopfte sich mit der Faust leicht an die Stirn. »Hab hier oben nicht viel Hirn, ich – bloß Spinnweben. Das hat Cordelia Delgado immer gesagt, und wahrscheinlich hat sie Recht.«
Jake antwortete nichts darauf. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Er hatte von demselben entstellten Jungen geträumt, der aber in keinem Saloon, sondern im Gage Park gewesen war, jener Anlage, wo sie Charlie Tschuff-Tschuff gesehen hatten. Letzte Nacht. So musst’ es gewesen sein. Er hatte nicht mehr daran gedacht und hätte sich vermutlich nie daran erinnert, wenn Sheemie nicht seinen eigenen Traum erzählt hätte. Und hatten auch Roland, Eddie und Susannah eigene Versionen dieses selben Traums geträumt?
Weitere Kostenlose Bücher