Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
färbten, leicht belustigend gefunden. Die Zeit war ein Dieb, und zu den ersten Dingen, die sie einem stahl, gehörte der Sinn für Humor. Sie zögerte, dann fügte sie hinzu:
Liebe dich
Ree
Stimmte das überhaupt noch? Na ja, sie würde es jedenfalls stehen lassen. Etwas durchzustreichen, was man mit Filzstift geschrieben hatte, sah immer hässlich aus. Sie brachte die Nachricht mit demselben Magneten an, der den Zettel schon zuvor am Kühlschrank festgehalten hatte.
Als sie die Mercedesschlüssel aus dem Korb neben der Tür nahm, fiel ihr das Ruderboot ein, das noch an dem kurzen Bootssteg hinter dem Laden lag. Dort würde ihm nichts passieren. Aber dann erinnerte sie sich noch an etwas anderes, an etwas, was der Junge ihr gesagt hatte. Er versteht nichts von Geld.
Sie ging in die Speisekammer, in der sie immer eine dünne Rolle Fünfziger aufbewahrte (hier draußen in der Provinz gab es Orte, an denen – das hätte sie beschwören können – die Leute noch nicht mal von Kreditkarten gehört hatten) und nahm sich drei. Sie wollte schon hinausgehen, zuckte dann aber die Achseln, ging zurück und nahm die restlichen drei auch noch mit. Warum der Geiz? Heute lebte sie eben auf großem Fuß.
Beim Hinausgehen blieb sie stehen, um noch einmal einen Blick auf ihre Nachricht zu werfen. Ohne die geringste Erklärung dafür zu haben, nahm sie den Positronics-Magneten weg und ersetzte ihn durch einen, der wie eine Orangenscheibe aussah. Dann verließ sie das Haus.
Die Zukunft konnte ihr gestohlen bleiben. Vorläufig hatte sie genug mit der Gegenwart zu tun.
9
Der Rettungswagen war wieder fort. Vermutlich, um den Schriftsteller ins nächste Hospital oder Krankenrevier zu bringen, dachte Roland. Gerade als der Wagen abfuhr, waren die Friedenswächter gekommen und hatten ungefähr eine halbe Stunde lang damit verbracht, mit Bryan Smith zu reden. Der Revolvermann konnte das Palaver von seinem Platz hinter der ersten Bodenwelle aus gut verfolgen. Die Fragen der Blauröcke waren deutlich und ruhig, Smiths Antworten kaum mehr als ein Gemurmel. Roland sah keinen Grund, die Arbeit einzustellen. Falls die Blauen in das Wäldchen kamen und ihn entdeckten, würde er mit ihnen fertig werden. Sie nur kampfunfähig machen, außer sie machten das unmöglich; die Götter wussten, dass es hier schon genügend Tote gegeben hatte. Aber er würde seinen Toten so oder so begraben.
Er würde seinen Toten begraben.
Der liebliche grüngoldene Schein auf der Lichtung hatte sich verdüstert. Die Mücken fielen über Roland her, aber er unterbrach die Arbeit nicht, um nach ihnen zu schlagen, sondern ließ sie sich einfach satt trinken und dann mit ihrer Blutfracht beladen schwerfällig davonschwirren. Als er mit dem Grab fertig war, das er mit den Händen ausgehoben hatte, hörte er Motoren anspringen: das ruhige Brummen zweier Autos und das ungleichmäßigere Tuckern von Smiths Van-Mobil. Da er nur zwei Friedenswächter hatte reden hören, bedeutete das wohl – falls nicht noch ein dritter Blaurock anwesend gewesen war, der nichts zu sagen gehabt hatte –, dass sie Smith allein wegfahren ließen. Das erschien Roland reichlich merkwürdig, aber wie die Frage, ob King querschnittgelähmt war oder nicht, ging ihn das nichts an und brauchte ihn nicht weiter zu kümmern. Wichtig war nur dies hier; wichtig war nur, dass er seinen Toten bestattete.
Er ging dreimal los, um Felsbrocken zu sammeln, weil ein mit den Händen ausgehobenes Grab notwendigerweise flach sein musste, und Tiere waren selbst in einer zahmen Welt wie dieser stets hungrig. Die Felsbrocken stapelte er am Kopfende des Grabes auf, das einer Narbe im Waldboden glich, der fast so dunkel wie schwarzer Samt war. Oy lag weiter neben Jakes Kopf, sah zu, wie der Revolvermann kam und ging, und sagte nichts. Er war schon immer anders gewesen als seine Artgenossen, wie sie sich entwickelt hatten, seit die Welt sich weiterbewegt hatte; Roland hatte sogar darüber spekuliert, ob Oys ungewöhnliche Geschwätzigkeit sein Tet dazu veranlasst hatte, ihn auszuschließen – und das keineswegs sanft. Als sie unweit der Ortschaft River Crossing auf diesen kleinen Kerl gestoßen waren, war er ausgehungert gewesen und hatte an einer Weiche eine halb verheilte Bisswunde gehabt. Der Bumbler hatte Jake von Anfang an geliebt. »Das liegt auf der Hand wie die Bedürfnisse der Erde«, hätte Cort (oder Rolands eigener Vater) vielleicht gesagt. Und mit Jake hatte der Bumbler am meisten
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