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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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gesprochen. Roland vermutete, dass Oy jetzt weitgehend verstummen würde, weil der Junge tot war, und diese Überlegung war eine weitere Methode, das Verlorene näher zu bestimmen.
    Er erinnerte sich daran, wie der Junge im Fackelschein vor den Einwohnern der Calla Bryn Sturgis gestanden hatte: sein Gesicht jung und schön, als könnte er ewig leben. Ich bin Jake Chambers, Sohn des Elmer, aus Elds Linie, aus dem Ka-Tet der Neunundneunzig, hatte er gesagt, und ach, aye, hier war er im Jahre neunundneunzig und wartete nur noch darauf, in sein kühles Grab gelegt zu werden.
    Roland musste wieder weinen. Er schlug die Hände vors Gesicht, wiegte sich auf den Knien vor und zurück, roch den süßen Duft der Tannennadeln und wünschte sich, er hätte verzichtet, bevor das Ka, dieser alte, geduldige Dämon, ihm den wahren Preis seines Unternehmens offenbart hatte. Er hätte alles dafür gegeben, das Geschehene ungeschehen machen, diese Grube ohne Inhalt zuschütten zu können, aber dies hier war nun einmal die Welt, in der die Zeit nur in eine Richtung floss.
     
     

10
     
    Als er sich wieder in der Gewalt hatte, hüllte er Jake sorgfältig in die blaue Plane, die er um das stille, blasse Gesicht herum zu einer Art Kapuze formte. Bevor er das Grab schloss, würde er Jakes Gesicht bedecken, aber vorerst noch nicht.
    »Oy?«, sagte er. »Willst du Abschied nehmen?«
    Oy sah Roland an, und der Revolvermann wusste einen Moment lang nicht, ob das Tier ihn verstanden hatte. Dann machte der Bumbler einen langen Hals und leckte ein letztes Mal über die Wange des Jungen. »Au, Ake«, sagte er.
    Der Revolvermann hob den Jungen auf (wie leicht er war, dieser Junge, der mit Benny Slightman aus der Heubodenluke gesprungen war und mit Pere Callahan gegen die Vampire gekämpft hatte; wie seltsam leicht, so als hätte sein allmählich zunehmendes Gewicht den Körper mit dem Leben verlassen) und legte ihn ins Grab. Ein paar Erdkrumen fielen ihm auf die eine Wange, und Roland wischte sie weg. Dann schloss er wieder die Augen und überlegte. Fast fünf Minuten lang begutachtete und verwarf er verschiedene Gebete, Meditationen und Segnungen in einem halben Dutzend Sprachen. Zuletzt entschied er sich für ein altes Gebet der Manni, das er in der Sunmie-Zunge gelernt hatte. Damals waren sie in Garlan gewesen, Cuthbert und er, auf der Suche nach dem letzten – und fanatisch treuen – Aufgebot der einst gewaltigen Armee des Guten Mannes. Obwohl er wusste, dass jede Übersetzung in die Sprache dieser Welt unbeholfen klingen würde, tat er sein Bestes. Falls Jakes Seele noch in Grabesnähe verweilte, war es diese Sprache, die sie verstehen würde.
    »Die Zeit fliegt, die Totenglocke läutet, das Leben verrinnt, also hört mein Gebet.
    Die Geburt ist nur der Beginn des Todes, also hört mein Gebet.
    Der Tod ist sprachlos, also hört mein Gebet.«
    Die Worte schwebten in den Dunst aus Grün und Gold davon. Roland ließ sie verhallen, bevor er das restliche Gebet anfügte. Er sprach jetzt zügiger.
    »Dies ist Jake, der seinem Ka und seinem Tet gedient hat. Das ist gewisslich wahr.
    Möge der vergebungsvolle Blick von S’mana sein Herz heilen. Darum bitten wir.
    Möge der Arm von Gan ihn aus der Finsternis dieser Erde heben. Darum bitten wir.
    Umgebe ihn, Gan, mit Licht.
    Erfülle ihn, Chloë, mit Kraft.
    Ist er durstig, so gebt ihm auf der Lichtung Wasser.
    Ist er hungrig, so gebt ihm auf der Lichtung Nahrung.
    Lasst seiner wachenden Seele sein Leben auf dieser Erde und den Schmerz seines Hinscheidens wie einen Traum erscheinen; lasst seine Augen sich an Schönem ergötzen; lasst ihn die Freunde wiederfinden, die er verloren hat, und lasst jeden, dessen Namen er ruft, mit seinem antworten.
    Dies ist Jake, der tapfer gelebt, die Seinen geliebt und den Tod gefunden hat, wie das Ka es wollte.
    Jeder Mensch schuldet dem Leben seinen Tod. Dies ist Jake. Schenkt ihm Frieden.«
    Er kniete noch einige Atemzüge länger mit zwischen den Knien gefalteten Händen da und wurde sich bewusst, dass er die wahre Macht des Kummers, den Schmerz des Bedauerns erst in diesem Augenblick ganz verstanden hatte.
    Ich kann’s nicht ertragen, ihn loszulassen.
    Aber dann wieder das grausame Paradox: Wenn er es nicht tat, war Jakes Opfer vergebens gewesen.
    Roland öffnete die Augen und sagte: »Lebe wohl, Jake. Ich liebe dich, Kleiner.«
    Dann zog er die blaue Kapuze als Schutz vor dem Erdregen, der nun folgen würde, über das Gesicht des

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