Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
sicherer Ort.«
Sie betrachtete wieder die Schildkröte, deren Panzer vom Wassernebel des Springbrunnens glänzte. »Das ist er wirklich, nicht wahr?« Sie lächelte kurz, wurde dann aber wieder ernst. »Du kommst doch zurück, oder? Du würdest mich nicht verlassen, ohne mir wenigstens …« Sie zuckte die Achseln, eine Geste, die sie sehr jung aussehen ließ. »Ohne mir wenigstens Lebewohl zu sagen?«
»Niemals. Was ich drüben im Turm zu erledigen habe, dürfte nicht lange dauern.« In Wirklichkeit hatte er dort kaum etwas zu erledigen … das heißt, falls die gegenwärtige Führung der Tet Corporation nicht etwas mit ihm zu besprechen hatte. »Wir haben anschließend noch ein weiteres Ziel. Dort werden Oy und ich dann von dir Abschied nehmen.«
»Okay«, sagte sie und setzte sich – mit dem Bumbler zu ihren Füßen – auf die Parkbank. Die Sitzfläche war feucht, und sie trug eine neue Sommerhose (bei derselben blitzartigen Einkaufstour erstanden, der Roland das Hemd und die Jeans verdankte), aber das störte sie nicht. An einem so warmen, sonnigen Tag würde der leichte Stoff sofort wieder trocknen, und sie merkte einfach, dass sie das Bedürfnis hatte, der Schildkrötenskulptur so nahe wie möglich zu sein. Um ihre winzigen, zeitlosen schwarzen Augen studieren zu können, während sie diesen lieblichen Stimmen lauschte. Das Ganze würde sehr erholsam sein, glaubte sie. Das war zwar kein Begriff, den sie normalerweise mit New York in Verbindung brachte, aber mit seiner ruhigen, friedlichen Atmosphäre war dieser kleine Park auch irgendwie ein für New York sehr untypischer Ort. Sie malte sich aus, einmal mit David hierher zu kommen; vielleicht konnte er sich dann auf dieser Bank sitzend die Geschichte von ihrem dreitägigen Verschwinden anhören, ohne sie für verrückt zu halten. Oder zumindest für allzu verrückt.
Roland brach auf. Er bewegte sich mit der mühelosen Geschmeidigkeit eines Menschen, der Tage und Wochen gehen konnte, ohne dabei sein Tempo zu verändern. Ihn möchte ich nicht auf den Fersen haben, dachte sie und empfand bei dieser Vorstellung einen leisen Schauder. An dem schmiedeeisernen Gatter, durch das er auf den Gehsteig treten würde, blieb er stehen und wandte sich ihr noch einmal zu. Dann sprach er in einem weichen Singsang:
»Sieh der SCHILDKRÖTE gewaltige Pracht!
Auf deren Panzer die Welt gemacht.
Klar ist ihr Denken und stets rein,
Schließt uns alle darin ein.
Sie hört die Schwüre auf ihrem Rücken
Und schweigt dazu aus freien Stücken.
Land und Meer liebt sie inniglich,
Sogar ein kleines Kind wie mich.«
Dann verließ er sie, bewegte sich rasch und sicher, ohne sich noch einmal umzusehen. Sie saß auf der Parkbank und beobachtete, wie er mit anderen Passanten an der Ecke darauf wartete, dass die Fußgängerampel GEHEN anzeigte, und dann mit leicht gegen die Hüfte schlagender Ledertasche die Straße überquerte. Sie beobachtete, wie er die Treppe zum Eingang des Gebäudes Hammarskjöld Plaza Nr. 2 hinaufging und darin verschwand. Dann lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und lauschte auf die singenden Stimmen. Irgendwann wurde ihr bewusst, dass mindestens zwei der Wörter, die sie sangen, die Bestandteile ihres Nachnamens waren.
5
Roland hatte den Eindruck, dass große Massen von Folken in das Gebäude strömten, aber das war die Wahrnehmung eines Mannes, den seine späten Wanderjahre hauptsächlich durch entvölkerte Gebiete geführt hatten. Wäre er nicht um Viertel vor elf, sondern mit der Masse der Angestellten um Viertel vor neun gekommen, hätte der Menschenstrom ihn schlicht sprachlos gemacht. Jetzt saß jedoch die Mehrzahl der dort arbeitenden Menschen in ihren Büros und Glaskästen und produzierte beschriebenes Papier und in Bytes gemessene Informationsmengen.
Die aus Klarglas bestehenden Fensterflächen der Eingangshalle waren mindestens zwei Vollgeschosse hoch, möglicherweise sogar drei. Daher war die Halle von Licht durchflutet, und als Roland sie betrat, fühlte er den ganzen Kummer, den er empfunden hatte, seit er auf der Hauptstraße von Pleasantville neben Eddie gekniet hatte, von sich abfallen. Hier drinnen klangen die singenden Stimmen lauter – nicht mehr wie ein kleiner Chor, sondern wie ein machtvoller Riesenchor. Und er sah, dass er nicht der Einzige war, der sie hörte. Auf der Straße waren die Menschen mit gesenktem Kopf und konzentrierter Miene dahingehastet, so als wollten sie bewusst die zarte und
Weitere Kostenlose Bücher