Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Wachtraum über Fedic. Er tippt: »Nach Einbruch der Dunkelheit möchte ich nicht mal mehr in der obersten Etage dieser Bude sein.« Die Worte erscheinen auf dem Bildschirm vor ihm. Damit ist ein von ihm so bezeichnetes Unterkapitel abgeschlossen, aber das heißt nicht immer, dass er für diesen Tag fertig ist. Ob er für einen Tag fertig ist, hängt davon ab, was er hört. Oder genauer gesagt davon, was er nicht hört. Worauf er horcht, ist Ves’-Ka Gan, das Lied der Schildkröte. Für heute scheint die Musik, die an manchen Tagen nur leise und an anderen so laut ist, dass sie ihn fast taub macht, verstummt zu sein. Morgen wird sie zurückkehren. Bislang hat sie das jedenfalls immer getan.
Er drückt die Befehlstaste und gleichzeitig die S-Taste. Der Computer lässt sein Klingelzeichen hören, um zu melden, dass der heute geschriebene Text gespeichert ist. Dann steht er auf, verzieht das Gesicht wegen der Hüftschmerzen und tritt ans Fenster seines Arbeitszimmers. Er blickt auf die Einfahrt hinaus, die steil zu der Straße hinaufführt, auf der er jetzt nur noch selten zu Fuß unterwegs ist. (Und auf der Hauptstraße, der Route 7, nie mehr.) Das mit der Hüfte ist an diesem Vormittag sehr schlimm, und auch die großen Oberschenkelmuskeln scheinen in Flammen zu stehen. Während er hinaussieht, reibt er sich geistesabwesend die schmerzende Stelle.
Roland, du Hundesohn, du hast mir die Schmerzen zurückgegeben, denkt er. Sie verlaufen das rechte Bein entlang wie ein rot glühendes Seil nach unten, könnt ihr nicht Gott sagen, könnt ihr nicht Gott-Bombe sagen, und er ist der, bei dem sie letztlich hängen geblieben sind. Der Unfall, der ihn beinahe das Leben gekostet hat, liegt bereits drei Jahre zurück, aber die Schmerzen sind noch immer da. Sie haben abgenommen – der menschliche Körper besitzt nun einmal erstaunliche Selbstheilungskräfte –, aber manchmal sind sie noch immer schlimm. Er denkt nicht viel an sie, wenn er schreibt, das Schreiben ist eine Art Flitzengehen, aber er ist immer recht steif, wenn er ein paar Stunden am Schreibtisch gesessen hat.
Er denkt an Jake. Ihm tut es verdammt Leid, dass Jake tot ist, und er vermutet, dass die Leser einfach rasend sein werden, sobald dieser neueste Roman erscheint. Und kann man es ihnen verübeln? Einige von ihnen kennen Jake Chambers nun bereits seit zwanzig Jahren, fast doppelt so lange, wie der Junge tatsächlich gelebt hat. Oh, sie werden fuchsteufelswild sein, aber werden sie ihm auch glauben, wenn er ihnen antwortet und schreibt, dass er das ebenso sehr bedauert wie sie, dass er ebenso überrascht ist wie sie? In tausend Jahren nicht, wie sein Großvater gesagt hätte. Er denkt an seinen Roman Sie: Annie Wilkes nennt Paul Sheldon einen Utschibutschi-Balg, weil er versucht, die alberne, hohlköpfige Misery Chastain loszuwerden. Annie brüllt, dass Paul der Autor ist, und der Autor ist Gott für seine Gestalten, er braucht keine von ihnen umzubringen, wenn er nicht will.
Aber Stephen ist nicht Gott. Zumindest nicht in diesem Fall. Er weiß verdammt genau, dass Jake Chambers nicht am Unfallort war, und auch Roland Deschain nicht – diese Vorstellung ist lächerlich, die beiden sind nur erfunden, verdammt noch mal –, aber er weiß auch, dass das Lied, das er hört, wenn er an seinem raffinierten Macintosh sitzt, sich irgendwann in Jakes Todeslied verwandelt hat, und würde er das ignorieren, würde er den Kontakt zum Ves’-Ka Gan ganz verlieren, und das darf nicht sein. Nicht, wenn er den Roman beenden will. Dieses Lied ist die einzige Fährte, die er hat, die Spur aus Brotbrocken, der er folgen muss, wenn er jemals aus dem von ihm selbst gepflanzten Zauberwald seines Plots herausfinden will, und …
Weißt du bestimmt, dass du ihn gepflanzt hast?
Äh … nein. Eigentlich kann er das nicht mit Bestimmtheit sagen. Ruft also schon mal die Männer in den weißen Kitteln.
Und weißt du ganz sicher, dass Jake an jenem Tag nicht dort war? An wie viel von dem verdammten Unfall kannst du dich denn überhaupt erinnern?
An nicht viel. Er weiß noch, wie er das Dach von Bryan Smiths Van über dem Horizont hat auftauchen sehen und erkannt hat, dass der Wagen nicht auf der Straße war, wo er hingehörte, sondern auf dem unbefestigten Seitenstreifen. Danach erinnert er sich, dass Smith auf einer Steinmauer gesessen, auf ihn hinuntergesehen und ihm erzählt hat, dass sein Bein bestimmt sechs- bis siebenmal gebrochen ist. Aber zwischen diesen beiden Erinnerungen
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