Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
– der an die Annäherung und der an einen Zeitpunkt unmittelbar nach dem Unfall – ist der Film seines Gedächtnisses rot versengt.
Oder fast rot.
Aber wenn er manchmal nachts aus Träumen erwacht, an die er sich nicht recht erinnern kann …
Manchmal hört er … na ja …
»Manchmal hörst du Stimmen«, sagt er. »Warum sprichst du das nicht einfach laut aus?«
Und dann lachend: »Ich hab’s eben getan, glaube ich.«
Er hört das Klicken von Hundekrallen, das den Flur entlang näher kommt, dann streckt Marlowe seine lange Schnauze ins Arbeitszimmer. Er ist ein Welsh Corgi mit kurzen Beinen und langen Ohren, jetzt schon recht betagt, mit eigenen Wehwehchen und Schmerzen, von dem Auge, das er letztes Jahr wegen Krebs verloren hat, ganz zu schweigen. Der Tierarzt meinte, die Operation würde er wahrscheinlich nicht überleben, aber er hat’s geschafft. Was für ein feiner Kerl. Was für ein zäher Kerl. Und als er den Kopf hebt, um aus seiner unvermeidlich niedrigen Perspektive zu dem Schriftsteller aufzusehen, trägt er sein gewohntes teuflisches Grinsen zur Schau. Wie läuft’s, Bubba?, scheint dieser Blick zu fragen. Hast du in letzter Zeit ein paar gute Worte gefunden? Wie geht’s immer?
»Mir geht’s gut«, sagt er zu Marlowe. »Ich halte durch. Und wie geht’s dir?«
Marlowe (manchmal auch als Langschnauze bekannt) wedelt zur Antwort mit seinem arthritischen Hinterteil.
»Sie wieder.« Das habe ich zu ihm gesagt. Und er hat gefragt: »Erinnern Sie sich an mich?« Möglicherweise hat er es auch als Aussage formuliert: »Sie erinnern sich an mich.« Ich habe ihm gesagt, dass ich durstig sei. Er hat gesagt, er habe nichts zu trinken da, er hat gesagt, das tue ihm Leid, und ich habe ihn einen Lügner genannt. Und damit hatte ich Recht, es hat ihm nämlich überhaupt nicht Leid getan. Ihm war’s scheißegal, ob ich Durst hatte, weil nämlich Jake tot war, und er hat versucht, mir den Tod des Jungen anzuhängen, der Dreckskerl hat versucht, die Schuld daran mir in die Schuhe zu schieben …
»Aber nichts davon hat sich wirklich ereignet«, sagt King, während er beobachtet, wie Marlowe in Richtung Küche zurückwatschelt, wo er noch mal seine Schüssel inspizieren wird, bevor er eines seiner immer länger werdenden Nickerchen macht. Das Haus ist bis auf die beiden leer, und unter diesen Umständen führt er oft Selbstgespräche. »Ich meine, das weißt du doch, oder? Dass sich nichts davon wirklich ereignet hat.«
Er nimmt an, dass er das tut, aber es war so merkwürdig, dass Jake auf diese Weise gestorben ist. Jake kommt in allen seinen Notizen vor, was nicht sonderlich überraschend ist, weil Jake ja auch bis ganz zum Schluss dabei sein sollte. Eigentlich sollten das sogar alle. Natürlich steht keine Geschichte, außer einer schlechten, die von vornherein eine Totgeburt war, jemals völlig unter Kontrolle des Autors, aber diese hier ist so außer Kontrolle geraten, dass es schon lächerlich ist. Er kommt sich wirklich eher so vor, als würde er ein Schauspiel beobachten – oder ein Lied hören –, anstatt eine verdammte erfundene Story zu schreiben.
Er beschließt, sich als Mittagsimbiss ein Erdnussbuttersandwich mit Gelee zu machen und die ganze verdammte Sache bis morgen zu vergessen. Heute Abend wird er ins Kino gehen, um sich den neuen Clint-Eastwood-Film Blood Work anzusehen, und froh sein, irgendwohin fahren, irgendetwas tun zu können. Morgen wird er wieder an seinem Schreibtisch sitzen, und vielleicht schlüpft irgendetwas aus dem Film in das Buch hinüber – zumindest hatte Roland ja anfangs auch viel von Clint Eastwood, von Sergio Leones »Mann ohne Namen«.
Und … weil wir gerade von Büchern sprechen …
Auf dem Couchtisch liegt eines, das erst heute Morgen per FedEx aus seinem Büro in Bangor gekommen ist: Das gesamte dichterische Werk Robert Brownings. Es enthält natürlich »Herr Roland kam zum finstern Turm«, das erzählende Gedicht, das die Grundlage von Kings langer (und anstrengender) Erzählung ist. Plötzlich hat er eine Idee, die auf sein Gesicht einen Ausdruck treten lässt, der nur knapp kein regelrechtes Lachen ist. Als könnte Marlowe seine Gefühle lesen (und vielleicht kann er das auch; King hat schon immer vermutet, dass Hunde erst vor kurzem aus jenem großen Ich-weiß-genau-was-du-empfindest-Land Empathica emigriert sind), scheint sein eigenes teuflisches Grinsen nun noch breiter zu werden.
»Es gibt nur einen Platz für das Gedicht, alter Junge«, sagt
Weitere Kostenlose Bücher