Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
King und wirft das Buch wieder auf den Couchtisch. Es ist ziemlich dick und landet mit dumpfem Aufprall. »Nur einen einzigen Platz.« Dann vergräbt er sich tiefer in den Sessel und schließt die Augen. Will bloß ein paar Minuten lang so dasitzen, denkt er und weiß, dass er sich selbst täuscht, dass er fast sicher einnicken wird. Wie er’s jetzt auch tut.
T EIL V IER
D IE W EISSEN L ANDE V ON E MPATHICA
DANDELO
Kapitel I
D AS L EBEWESEN UNTER DEM S CHLOSS
1
Und wirklich, im Erdgeschoss der Experimentalstation fanden sie unweit des Bettensaals eine größere Küche mit anschließender Speisekammer. Sie entdeckten auch noch etwas: das Büro von Sai Richard P. Sayre, ehemals Generalbevollmächtigter des Scharlachroten Königs, jetzt dank Susannahs schneller Rechter auf der Lichtung am Ende des Pfades. Auf Sayres Schreibtisch lagen erstaunlich vollständige Dossiers über alle vier Revolvermänner. Sie beseitigten diese, indem sie sie einfach in den Aktenvernichter steckten. Die Ordner enthielten Fotos von Eddie und Jake, deren Anblick einfach zu schmerzlich war. Bloße Erinnerungen waren besser.
In Sayres Büro hingen zwei gerahmte Ölgemälde. Eines davon zeigte einen kräftigen, gut aussehenden, lächelnden Jungen. Er hatte keine Oberbekleidung an, war barfuß, hatte zerzaustes Haar und trug nur Jeans und eine Dockerschlinge. Er schien ungefähr in Jakes Alter zu sein. Dieses Porträt hatte eine etwas unangenehme Sinnlichkeit an sich. Susannah vermutete, dass der Maler, Sai Sayre oder beide zur Lavendelhügel-Bande gehört haben könnten, wie Homosexuelle manchmal im Village umschrieben wurden. Das Haar des Jungen war schwarz. Die Augen waren blau. Die Lippen waren rot. Er hatte eine weißliche Narbe an der Seite und an der linken Ferse ein Muttermal, das so hochrot wie seine Lippen war. Vor ihm lag ein verendetes schneeweißes Pferd. An seinen gefletschten Zähnen klebte Blut. Der durch das Mal gezeichnete linke Fuß des Jungen ruhte auf der Flanke des Pferdes, und seine Lippen waren zu einem triumphierenden Lächeln verzogen.
»Das ist Llamrei, Arthur Elds Streitross«, sagte Roland. »Das Bild des Pferdes wurde auf Gileads Standarten in die Schlacht getragen und war das Sigul für ganz Innerwelt.«
»Diesem Bild nach siegt also der Scharlachrote König?«, fragte Susannah. »Oder zumindest sein Sohn Mordred?«
Roland zog die Augenbrauen hoch. »Dank John Farson haben die Männer des Scharlachroten Königs die Länder von Innerwelt schon vor langem erobert«, sagte er. Dann lächelte er jedoch. Es war ein sonniger Ausdruck, der sich so sehr von seiner sonstigen Miene unterschied, dass Susannah davon immer leicht schwindlig wurde. »Aber ich glaube, wir haben in der einzigen Schlacht gesiegt, auf die’s ankommt. Dieses Gemälde zeigt nur irgendjemands Wunschdenken.« Mit einer Brutalität, die sie erschreckte, zertrümmerte er das Glas mit der Faust, fetzte das Gemälde aus dem Rahmen und riss es dabei größtenteils in der Mitte durch. Bevor er es ganz in Stücke reißen konnte, was er zweifellos vorhatte, fiel Susannah ihm in den Arm und zeigte auf die rechte untere Ecke. Dort stand in zierlicher, aufwändiger Schönschrift der Name des Künstlers: Patrick Vanville .
Das andere Gemälde zeigte den Dunklen Turm als einen sich nach oben verjüngenden rußschwarzen Zylinder. Er stand am jenseitigen Ende des Can’-Ka No Rey, des Rosenfeldes. In ihren Träumen war der Turm ihnen höher als der höchste New Yorker Wolkenkratzer erschienen (für Susannah war dies das Empire State Building). Auf dem Gemälde schien er nicht höher als zweihundert Meter zu sein, aber auch das raubte ihm nichts von seiner traumartigen Majestät: Genau wie in ihren Träumen zogen die schmalen Fenster sich spiralförmig über seine Außenseite nach oben. Im Obergeschoss war ein Erkerfenster mit vielen Farben angeordnet, von denen jede – das wusste Roland – einer der magischen Glaskugeln entsprach. Der zweite Kreis von innen zeigte das Rosa jener Kugel, die für einige Zeit der Obhut einer Hexe namens Rhea anvertraut gewesen war; den innersten Kreis bildete das stumpfe Ebenholzschwarz der Schwarzen Dreizehn.
»Der Raum hinter diesem Fenster ist mein Ziel«, sagte Roland und tippte auf das Glas über dem Gemälde. »Dort ist meine Suche zu Ende.« Seine Stimme klang ehrfürchtig leise. »Dieses Bild ist nicht nach irgendeinem Traum gemalt, Susannah. Man hat das Gefühl, die Beschaffenheit
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