Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
welche Bagatelle hätte sie an diesen unangenehmen Tagen, in diesen schrecklichen Nächten ihre unsterbliche Seele verkauft? Manchmal glaubte sie, ein einziger Pullover hätte als Kaufpreis genügt; ein andermal sagte sie sich: Nein, Schätzchen, dafür besitzt du auch jetzt noch zu viel Selbstachtung. Würdest du für einen einzigen Pullover eine Ewigkeit in der Hölle – oder vielleicht im Flitzerdunkel – verbringen wollen? Bestimmt nicht!
Nun, vielleicht nicht. Wenn der Teufel, der sie in Versuchung führte, beispielsweise ein Paar Ohrenwärmer drauflegen würde …
Und dabei wäre eigentlich so wenig erforderlich gewesen, um es behaglich zu haben. Daran musste sie ständig denken. Sie hatten Verpflegung, und sie hatten auch Wasser, weil sie in Abständen von fünfundzwanzig Kilometern an Pumpen vorbeikamen, die noch arbeiteten und aus tiefen Gesteinsschichten unter dem Ödland große Mengen von kaltem, nach Mineralstoffen schmeckendem Wasser förderten.
Ödland. Sie hatte Stunden und Tage, letztlich sogar Wochen Zeit, über diesen Begriff nachzudenken. Was machte es so unwirtlich? Vergiftetes Wasser? Das hiesige Wasser war nicht süß, durchaus nicht, aber es war auch nicht ungenießbar. Nahrungsmangel? Sie hatten Verpflegung, obwohl sie vermutete, dass die Nahrungsfrage später ein Problem werden könnte, wenn sie keine neuen Nahrungsquellen auftun konnten. Unterdessen hatte sie das ewige Büchsenfleisch gewaltig satt, von Rosinen zum Frühstück und Rosinen, wenn man eine Nachspeise wollte, ganz zu schweigen. Aber das Zeug war Nahrung. Körpertreibstoff. Was machte das Ödland so unwirtlich, wenn man Nahrung und Wasser hatte? Zu beobachten, wie der Himmel im Westen erst golden, dann rostbraun wurde; zu verfolgen, wie er im Osten erst purpurrot, dann sternenfunkelnd schwarz wurde. Sie beobachtete diese Übergänge vom Tag zur Nacht mit zunehmendem Grauen: mit dem Gedanken an eine weitere endlos lange Nacht, in der sie sich zu dritt zusammendrängten, während der Wind sich heulend durch die Felsen wand und die Sterne mitleidlos herabschienen. Endlose Stunden in einer kalten Hölle, während einem die Finger kribbelten und man dachte: Wenn ich nur einen Pullover und ein Paar Handschuhe hätte, dann hätte ich es behaglich. Mehr brauchte es nicht, nur einen Pullover und ein Paar Handschuhe. Weil es nämlich eigentlich gar nicht so kalt ist.
Wie kalt wurde es nach Sonnenuntergang denn tatsächlich? Nie unter null Grad, das wusste sie, weil das Wasser, das sie Oy hinstellte, nie gefror. Sie schätzte, dass die Temperatur zwischen Mitternacht und Tagesanbruch auf vier bis fünf Grad sank; in einigen Nächten musste sie allerdings auch knapp über dem Gefrierpunkt gelegen haben, weil am Rand von Oys Wasserschüssel bereits winzige Eiskristalle zu sehen gewesen waren.
Allmählich begann sie seinen Pelz voller Neid zu betrachten. Anfangs redete sie sich ein, das sei nur ein spekulativer Zeitvertreib – wie hoch hielt der Metabolismus des Bumblers seine Körpertemperatur, wie warm hielt dieser Pelz (dieser dichte, dieser üppig dichte, dieser erstaunlich dichte Pelz) ihn eigentlich? Allmählich erkannte sie aber, was in Wirklichkeit dahinter steckte: Neidgefühle, die sich mit Dettas Stimme meldeten. Der kleine Scheißer spürt keine Kälte nich, wenn die Sonne untergeht, was? Nee, der nich! Ob dem sein Pelz für zwei Paar Fausthandschuh reichn würd?
Elend und entsetzt, verdrängte sie solche Gedanken wieder, fragte sich, ob es für den menschlichen Geist in seiner gemeinsten, berechnendsten, egoistischsten Verfassung ein unteres Limit gab, wollte es dann aber lieber nicht so genau wissen.
Tiefer und immer tiefer fraß die Kälte sich in sie hinein, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Wie ein Holzsplitter. Sie schliefen zusammengedrängt mit Oy zwischen sich und drehten sich gemeinsam um, sodass abwechselnd die Körperseiten, die dem Wind ausgesetzt gewesen waren, auch einmal nach innen kamen. Wirklich erholsamer Schlaf war nie lange möglich, selbst wenn sie noch so erschöpft waren. Als der zunehmende Mond die Nächte zu erhellen begann, marschierten sie zwei Wochen lang nur nachts und schliefen dafür tagsüber. Das ging etwas besser.
Die einzigen Tiere, die sie zu Gesicht bekamen, waren große schwarze Vögel, die am südöstlichen Horizont vorbeiflogen oder sich in ganzen Schwärmen auf den Tafelbergen versammelten. Wenn der Wind günstig war, konnten Roland und Susannah ihre schrille, schwatzhafte
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