Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Tagestemperatur auf sieben bis acht Grad, und immerhin hatten sie Lebensmittel –, aber sie hätte viel für einen Pullover und noch mehr für eine lange Unterhose gegeben.
»Bestimmt finden wir unterwegs anderes Zeug, das wir zum Feuermachen benutzen können«, sagte sie hoffnungsvoll, als das Feuer schließlich brannte (die brennenden Knochen stanken übel, und sie achteten darauf, auf der dem Wind zugekehrten Seite des Feuers zu sitzen). »Unkraut … Buschwerk … weitere Knochen … vielleicht sogar dürres Holz.«
»Das glaube ich nicht«, sagte er. »Nicht auf dieser Seite des Schlosses des Scharlachroten Königs. Nicht mal Teufelsgras, das sonst in Mittwelt praktisch überall wächst.«
»Das kannst du nicht wissen. Jedenfalls nicht sicher.« Sie konnte es nicht ertragen, an endlose Tage mit gleich bleibend niedrigen Temperaturen zu denken, während sie beide für nichts Extremeres als einen Frühlingstag im Central Park angezogen waren.
»Ich glaube, er hat dieses Land gemordet, als er Donnerschlag verdunkelt hat«, meinte Roland nachdenklich. »Wahrscheinlich war es sowieso nie sehr ergiebig, aber jetzt ist es völlig unfruchtbar. Aber wir sollten dankbar sein für das, was uns beschert ist.« Er streckte die Hand aus und berührte einen Pickel, der sich neben ihrer vollen Unterlippe gebildet hatte. »Vor hundert Jahren hätte dieser hier dunkler werden, sich ausbreiten und dir das Fleisch von den Knochen fressen können. Das Gehirn erfassen und dich vor deinem Tod in den Wahnsinn treiben können.«
»Krebs? Strahlenkrankheit?«
Roland zuckte die Achseln, als wäre das nicht weiter wichtig. »Irgendwo jenseits des Schlosses des Roten Königs erreichen wir vielleicht Grasland oder sogar wieder Wälder, obwohl das Gras, bis wir dort sind, unter einer Schneedecke liegen dürfte. Es ist die falsche Jahreszeit. Das spüre ich in der Luft, das merke ich daran, wie schnell der Tag dunkel wird.«
Susannah ächzte und wollte damit eine komische Wirkung erzielen, aber was herauskam, war ein ängstlicher, erschöpfter Laut, der so echt klang, dass er sie selbst erschrak. Oy stellte die Ohren auf und sah sich nach ihnen um. »Warum heiterst du mich nicht ein wenig auf, Roland?«
»Du musst die Wahrheit wissen«, sagte er. »Unter den jetzigen Voraussetzungen können wir ziemlich lange durchhalten, Susannah, aber das wird kein Spaß. Auf dem Wagen haben wir genügend Vorräte für einen Monat oder sogar länger, wenn wir sie strecken … und das werden wir tun. Wenn wir wieder fruchtbares Land erreichen, werden wir auch Tiere finden, um sie zu erlegen, selbst wenn schon Schnee liegen sollte. Und darauf zähle ich. Nicht weil wir bis dahin Hunger auf frisches Fleisch haben werden, obwohl das zu erwarten ist, sondern weil wir die Felle brauchen. Ich hoffe, dass wir sie nicht verzweifelt dringend brauchen werden, dass die Sache nicht so knapp wird, aber …«
»Aber du fürchtest, dass es so sein wird.«
»Ja«, sagte er, »leider. Über längere Zeit hinweg ist im Leben kaum etwas so entmutigend wie anhaltende Kälte – vielleicht nicht streng genug, um zu töten, aber ständig da, um einem Stück für Stück Energie und Willenskraft und Körperfett zu rauben. Du wirst schon sehen.«
Das tat sie.
5
Im Leben ist kaum etwas so entmutigend wie anhaltende Kälte.
Unter Tags war es nicht so schlimm. Dann waren sie zumindest unterwegs, betätigten sich körperlich und hielten ihren Kreislauf in Schwung. Aber auch schon tagsüber begann Susannah die freien Flächen zu fürchten, zu denen sie manchmal kamen, die Orte, wo der Wind über meilenweite vegetationslose Geröllfelder zwischen Kegelstümpfen oder Tafelbergen heulte. Dergleichen Formationen ragten wie die roten Finger sonst gänzlich begrabener Steingiganten in den gleich bleibend blauen Himmel auf. Der Wind schien immer schneidender zu werden, während sie sich unter milchigen Wolkenschleiern, die dem Pfad des Balkens folgten, mühsam weiterschleppten. Susannah hob ihre aufgesprungenen Hände, um das Gesicht vor dem Wind zu schützen. Sie konnte es nicht ausstehen, wie ihre Finger fast ganz gefühllos wurden und sich in betäubte Extremitäten verwandelten, in denen es unter der Haut kribbelte. Ihre Augen füllten sich mit Wasser, und dann liefen ihr Ströme von Tränen übers Gesicht. Diese Tränenspuren gefroren nie; so streng war die Kälte nicht. Sie war nur streng genug, um ihr Leben in langsam eskalierendes Elend zu verwandeln. Für
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