Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
entlangging – einen Schal, der zu der Zeit für $ 1,99 verkauft wurde.
Billig.
Billig, wie das weiße Nylonhöschen.
Billig.
Wie sie.
Der Körper, in dem sie wohnte, war der Körper einer Frau, die Millionen geerbt hatte, aber das war nicht bekannt und spielte keine Rolle – der Schal war weiß, seine Ränder blau, und sie empfand dasselbe kurze, brechende Gefühl der Lust, während sie auf dem Rücksitz eines Taxis saß und gar nicht auf den Fahrer achtete, den Schal in einer Hand hielt und starr betrachtete, während ihre andere Hand sich unter den Tweedrock und das Hüftgummi ihres Höschens stahl, wo der einzelne lange Finger das erledigte, was erledigt werden mußte – mit einem einzigen gnadenlosen Hieb.
Manchmal fragte sie sich auf eine zerstreute Weise, wo sie war, wenn sie nicht hier war, aber meistens waren ihre Bedürfnisse zu plötzlich und drängend, um ausgiebiger darüber nachzudenken, und daher erfüllte sie einfach, was erfüllt werden mußte, und tat, was getan werden mußte.
Roland hätte das verstanden.
5
Odetta hätte überall mit der Limousine hinfahren können, selbst 1959 – obwohl da ihr Vater noch lebte und sie nicht so sagenhaft reich war, wie sie es nach seinem Tod im Jahre 1962 werden würde, als das Geld, das treuhänderisch für sie verwaltet worden war, an ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag in ihren Besitz überging und sie ziemlich damit machen konnte, was sie wollte. Sie scherte sich ziemlich wenig um einen Ausdruck, den konservative Kolumnisten ein oder zwei Jahre vorher geprägt hatten der Ausdruck lautete ›Limousinenliberale‹ –, und sie war jung genug, daß sie nicht als eine angesehen werden wollte, selbst wenn sie eine war. Nicht mehr jung genug (oder dumm genug!) zu glauben, daß ein Paar verblichene Levis und die Khakihemden, die sie so beiläufig trug, ihren grundlegenden Status in irgendeiner Weise änderten, oder gar die Tatsache, daß sie mit dem Bus oder der U-Bahn fuhr, obwohl sie das Auto hätte benützen können (sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen, daß sie Andrews verletzte, tiefe Verwirrung nicht bemerkt hatte; er mochte sie und glaubte, es müsse sich um eine persönliche Abneigung handeln), aber jung genug, immer noch zu glauben, daß eine Geste manchmal die Wahrheit überwinden (oder zumindest übertünchen) konnte.
In der Nacht des 19. August 1959 bezahlte sie für diese Geste mit der Hälfte ihrer Beine… und der Hälfte ihres Verstands.
6
Odetta war zuerst in den Strom, der zu einer Flutwelle anwachsen wollte, gesogen, dann gespült und schließlich davon fortgerissen worden. 1957, als sie damit anfing, hatte das, was schließlich als Movement bekannt werden würde, noch keinen Namen. Sie kannte einige der Hintergründe, wußte, daß das Ringen um Gleichheit nicht erst seit der Emancipation Proclamation stattfand, sondern fast seit dem Tag, als die erste Schiffsladung Sklaven nach Amerika gebracht worden war (nach Georgia, der Kolonie, die die Briten gegründet hatten, um ihre Kriminellen und Schuldner loszuwerden), aber für Odetta schien es immer am selben Ort anzufangen, mit denselben drei Worten: Ich weiche nicht.
Der Ort war ein städtischer Bus in Montgomery, Alabama, gewesen, und eine farbige Frau namens Rosa Lee Parks hatte die Worte ausgesprochen, und Rosa Lee Parks wich nicht vom vorderen Teil des Busses in den hinteren, der natürlich der Jim Crow-Teil des Busses war. Viel später sang Odetta zusammen mit allen anderen ›We Shall Not be Moved‹, und dabei mußte sie immer an Rosa Lee Parks denken, und sie sang es nie ohne ein Gefühl der Scham. Es war so einfach, we – wir – zu singen, wenn man die Arme mit den Armen einer gewaltigen Menge untergehakt hatte; das war selbst für eine Frau ohne Beine einfach. Es war so leicht, wir zu singen, und so leicht, wir zu sein. In diesem Bus war es kein wir gewesen, in jenem Bus, der nach altem Leder und jahrelangem Zigarren- und Zigarettenrauch gestunken haben mußte, dem Bus mit den gekrümmten Werbeflächen, auf denen Sachen wie LUCKY STRIKE L. S. M. F. T. und BESUCHEN SIE UM GOTTES WILLEN DIE KIRCHE IHRER WAHL und TRINKEN SIE OVALTINE! SIE WERDEN SCHON SEHEN, WAS WIR MEINEN! und CHESTERFIELD, EINUNDZWANZIG WUNDERBARE TABAKSORTEN FÜR EINUNDZWANZIGMAL WUNDERBAREN RAUCHGENUSS standen, kein wir unter dem ungläubigen Blick des Fahrers, der weißen Passagiere, zwischen denen sie saß, und unter den gleichermaßen ungläubigen Blicken der
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