Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
war die Vergangenheit – die Verwandten, die roten Staubstraßen, die Geschäfte, die schmutzigen einstöckigen Hütten ohne Fensterglas und ohne den Schmuck auch nur eines einzigen Vorhangs, die Zwischenfälle des Leids und der Erniedrigung, die Nachbarkinder, die Kleider trugen, welche ihr Leben als Mehlsäcke angefangen hatten – begraben wie ein toter Zahn unter einer makellosen, blendend weißen Krone. Er wollte nichts erzählen, konnte es vielleicht nicht, hatte sich vielleicht selbst partieller Amnesie ausgesetzt; die Zahnkronen waren ihr Leben in den Greymarl Apartments an der Central Park South. Alles andere war unter dieser undurchdringlichen äußeren Hülle begraben. Seine Vergangenheit war so gut geschützt, daß es keine Lücke gab, durch die man zu ihr vordringen konnte, es gab keinen Weg durch das perfekt verkronte Gebiet in den Hals der Enthüllung.
Detta wußte verschiedene Dinge, aber Detta kannte Odetta nicht, und Odetta kannte Detta nicht, und daher waren die Zähne auch da so fest versiegelt wie mit einer Krone.
Sie hatte etwas von der Schüchternheit ihrer Mutter und von der unerschrockenen (wenn auch unausgesprochenen) Härte ihres Vaters, und eines Nachts in seiner Bibliothek hatte sie es gewagt, ihn weiter mit dem Thema zu bedrängen; sie hatte ihm gesagt, was er ihr vorenthielt, sei ein verdientes Treuhandvermögen, das ihr nie versprochen worden war und offensichtlich auch niemals zufallen sollte. Er hatte sein Wall Street Journal sorgfältig ausgeschüttelt, zugeklappt, zusammengelegt und auf das Tischchen neben der Stehlampe gelegt. Er hatte die randlose Stahlbrille abgezogen und auf die Zeitung gelegt. Dann hatte er sie angesehen, ein magerer schwarzer Mann, fast bis zur Ausgezehrtheit mager, dessen straff gekämmtes graues Haar zunehmend von den Höhlen seiner Schläfen zurückwich, wo zarte Uhrfedern von Äderchen unablässig pulsierten, und er hatte nur gesagt: Ich spreche nicht über diesen Abschnitt meines Lebens, Odetta, ich denke nicht einmal daran. Es wäre sinnlos. Die Welt hat sich seitdem weitergedreht.
Roland hätte das verstanden.
7
Als Roland die Tür mit der Aufschrift DIE HERRIN DER SCHATTEN aufmachte, sah er Dinge, die er überhaupt nicht verstand aber er begriff, daß sie nicht wichtig waren.
Es war Eddie Deans Welt, aber darüber hinaus bestand sie nur aus verwirrenden Lichtern, Menschen und Gegenständen – mehr Gegenständen, als er in seinem Leben je gesehen hatte. Frauensachen, wie es aussah, und offenbar zu verkaufen. Einige unter Glas, andere zu verlockenden Bergen und Auslagen hergerichtet. Das spielte jedoch ebensowenig eine Rolle wie die Bewegung, mit der diese Welt an den Rändern der Tür vor ihnen vorüberschwebte. Die Tür waren die Augen der Herrin. Er sah durch sie hindurch, wie er durch Eddies Augen gesehen hatte, als sich Eddie im Mittelgang der Himmelskutsche dahinbewegte.
Eddie dagegen war wie vom Donner gerührt. Der Revolver in seiner Hand zitterte und sank ein wenig nach unten. Der Revolvermann hätte ihn ihm mühelos wegnehmen können, tat es aber nicht. Er stand nur reglos da. Das war ein Trick, den er vor langer Zeit gelernt hatte.
Jetzt machte der Blick durch die Tür eine dieser Wendungen, die der Revolvermann so schwindelerregend fand – aber Eddie fand diese unerwartete Drehung seltsam tröstlich. Roland hatte noch nie einen Film gesehen. Eddie hatte Tausende gesehen, und was er hier sah war einer dieser mitreißenden Filme mit beweglicher Kamera wie Halloween und Shining. Er wußte sogar, wie die Kamera genannt wurde, mit der sie das machten. Steadi-Cam. Das war es.
»Krieg der Sterne gerade auch«, murmelte er. »Todesstern. Dieser verdammte Kerl, erinnerst du dich?«
Roland sah ihn an, sagte aber nichts.
Hände – dunkelbraune Hände – griffen in das, was Roland als Tür sah und was Eddie bereits als eine Art magischer Leinwand betrachtete… eine Leinwand, in die man unter den richtigen Umständen hineinspazieren konnte, so wie der Bursche in Purple Rose of Cairo einfach aus der Leinwand herausgekommen und in die echte Welt gegangen war. Verflixter Film.
Bis jetzt war Eddie gar nicht klar gewesen, wie verflixt.
Aber auf der anderen Seite der Tür, durch die er sah, war dieser Film noch gar nicht gemacht worden. Es war New York, okay das verkündete irgendwie schon der Tonfall der Taxihupen, so leise und fern sie waren, und es war ein New Yorker Kaufhaus, in dem er auch schon gewesen war, aber es war…
Weitere Kostenlose Bücher