Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Schwarzen im hinteren Teil.
Kein wir.
Keine marschierenden Tausende.
Nur Rosa Lee Parks, die mit drei Worten eine Flutwelle ausgelöst hatte: Ich weiche nicht.
Odetta pflegte zu denken: Wenn ich so etwas tun könnte – wenn ich so tapfer sein könnte –, würde ich wahrscheinlich für den Rest meines Lebens glücklich sein. Aber diese Art von Mut ist nicht in mir.
Sie hatte von dem Parks-Zwischenfall gelesen, aber anfangs mit geringem Interesse. Das Interesse kam Stück für Stück. Es war schwer zu sagen, wann genau ihre Fantasie von diesem ersten und beinahe lautlosen Rassenbeben gepackt worden war, welche begonnen hatten, den Süden zu erschüttern.
Etwa ein Jahr später nahm sie ein junger Mann, mit dem sie mehr oder weniger regelmäßig ausging, mit ins Village hinunter, wo einige der jungen (und größtenteils weißen) Folksänger, die dort auftraten, ihrem Repertoire ein paar neue und erstaunliche Stücke hinzugefügt hatten – plötzlich sangen sie zusätzlich zu den alten Heulern über John Henry, der seinen Hammer genommen und schneller gearbeitet hatte als der neue Dampfhammer (und der sich dabei umgebracht hatte, kicher, kicher) und über Barbry Allen, die ihren von Liebe verzehrten jungen Kavalier grausam zurückgewiesen hatte (und später dann vor Scham darüber gestorben war, lach – lach), neue Songs darüber, wie es war, kaputt und erledigt und in der Stadt mißachtet zu sein, wie es war, einen Job nicht zu bekommen, den man erledigen konnte, weil man die falsche Hautfarbe hatte, wie es war, von Mr. Charlie in eine Gefängniszelle geschleppt und ausgepeitscht zu werden, weil man dunkle Haut hatte und es gewagt hatte, lach – lach, am Imbißtresen des Woolworth in Montgomery, Alabama, in der weißen Abteilung zu sitzen.
Absurd oder nicht, erst da hatte sie angefangen, sich für ihre Eltern zu interessieren, deren Eltern und deren Eltern davor. Sie würde nie Roots lesen – sie war, lange bevor dieses Buch geschrieben wurde, in einer anderen Welt und einer anderen Zeit, vielleicht sogar bevor Alex Hailey es sich ausgedacht hatte, aber in dieser absurd späten Zeit ihres Lebens dämmerte es ihr zum erstenmal, daß ihre Vorfahren vor gar nicht so vielen Generationen von Weißen in Ketten gelegt worden waren. Diese Tatsache war ihr sicher bewußt geworden, aber lediglich als Information ohne echten Temperaturgradienten, wie in einer Gleichung, niemals als etwas, welches unmittelbaren Einfluß auf ihr Leben hatte.
Odetta faßte zusammen, was sie wußte, und war bestürzt, wie wenig es war. Sie wußte, ihre Mutter war in Odetta, Arkansas, geboren worden, der Stadt, nach der sie (als Einzelkind) getauft worden war. Sie wußte, ihr Vater war Kleinstadtzahnarzt gewesen, der einen Verkronungsprozeß erfunden hatte und sich patentieren ließ, welcher zehn Jahre lang schlafend und unbeachtet lag, bis er ihn plötzlich zu einem bescheiden reichen Mann gemacht hatte. Sie wußte, er hatte in den zehn Jahren vor und den vier Jahren nach dem finanziellen Erfolg noch eine Reihe weiterer zahntechnischer Prozesse entwickelt, von denen die meisten orthodontischer oder kosmetischer Natur waren, und er hatte, kurz bevor er mit seiner Frau und seiner Tochter (die vier Jahre nach Anmeldung des ersten Patents zur Welt gekommen war) nach New York gezogen war, eine Firma mit dem Namen Holmes Dental Industries gegründet, die heute für Zähne das war, was Squibb für Antibiotika war.
Aber wenn sie ihn fragte, wie das Leben in den Jahren dazwischen gewesen war – den Jahren, als sie nicht da gewesen war, und den Jahren, als sie da war –, wollte ihr Vater ihr nichts erzählen. Er sagte alle möglichen Sachen, aber er erzählte nichts. Diesen Teil seiner selbst verschloß er vor ihr. Einmal hatte ihre Mutter, Alice – er nannte sie Ma oder manchmal Alice, wenn er ein paar getrunken hatte oder sich gut fühlte –, gesagt: »Erzähl ihr davon, wie diese Männer auf dich geschossen haben, als du mit dem Ford über die gesperrte Brücke gefahren bist, Dan«, und er bedachte Odettas Ma mit einem so dunklen und gebieterischen Blick, daß ihre Ma, die immer eine Art Sperling gewesen war, sich in den Sessel verkrochen und nichts mehr gesagt hatte.
Nach diesem Abend hatte Odetta es ein- oder zweimal allein bei ihrer Mutter versucht, aber ohne Ergebnis. Hätte sie es vorher versucht, hätte sie vielleicht etwas herausbekommen, aber da er nichts preisgeben wollte, gab sie auch nichts preis. Und ihr wurde klar, für ihn
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