Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
hatte, öffneten sie sich nicht wieder.
Er hatte zwar gesagt, sie um Mitternacht zu wecken, aber er ließ sie noch zwei Stunden länger schlafen, weil er wusste, dass ihr Körper sich in der Wärme am Feuer wirklich erholte, zumindest für diese eine Nacht. Kurz nachdem seine schöne neue Taschenuhr ein Uhr angezeigt hatte, fühlte er den Blick ihres Verfolgers endlich nicht mehr. Wie unzählige Kinder vor ihm hatte auch Mordred es nicht geschafft, in den dunkelsten Nachtstunden noch wach zu bleiben. Wo immer der Ort liegen mochte, an dem er sich verkrochen hatte: das ungewollte, einsame Kind, das in die Fetzen seiner wattierten Jacke gehüllt war, war nun mit dem Kopf auf den Armen eingeschlafen.
Und spitzte sein Mund, der noch von Sai Thoughtfuls Blut verkrustet war, die bebenden Lippen, als träumte er von der Brust, die er nur einmal gekannt, und der Milch, die er nie gekostet hatte?
Roland wusste es nicht. Wollte es auch nicht unbedingt wissen. Er war nur froh, in der Stillwache der Nacht allein zu sein, wo er gelegentlich ein Stück Holz auf das langsam niederbrennende Feuer warf. Weil das Feuer sonst zu rasch ausgegangen wäre, wie er vermutete. Das Holz war neuer als das, aus dem die Stadthäuser erbaut waren, aber trotzdem uralt und zu einer Substanz verhärtet, die fast wie Stein war.
Morgen würden sie Bäume sehen. Die ersten seit Calla Bryn Sturgis, wenn man jene unberücksichtigt ließ, die unter der künstlichen Sonne des Algul Siento gewachsen waren, und jene anderen, die er in Stephen Kings Welt gesehen hatte. Das wäre nicht schlecht. Unterdessen herrschte tiefe Nacht. Außerhalb des Lichtkreises des herabbrennenden Feuers heulte ein Wind, der Rolands Haar von den Schläfen wegstehen ließ und einen feinen Schneegeruch mitbrachte. Er legte den Kopf in den Nacken und beobachtete, wie die Sternenuhr sich am schwarzen Himmel über ihm drehte.
Kapitel IV
F ELLE
1
Statt einer oder zwei Nächten ohne Feuer mussten sie dann doch drei erdulden. Die letzte Nacht bestand aus den längsten, erbärmlichsten zwölf Stunden in Susannahs Leben. Ist das hier schlimmer als die Nacht, in der Eddie gestorben ist?, fragte sie sich einmal. Willst du wirklich behaupten, dass das hier schlimmer ist, als schlaflos in einem der Zimmer des Wohnheims zu liegen und zu wissen, dass du in Zukunft immer allein liegen wirst? Schlimmer, als sein Gesicht, als seine Hände und Füße zu waschen? Sie für die Beerdigung zu waschen?
Ja. Es war schlimmer. Sie verabscheute diese Erkenntnis und hätte sie niemals irgendwem gegenüber eingestanden, aber die tiefe, endlose Kälte dieser letzten Nacht war weit schlimmer. Sie begann jeden leichten Atemzug einer Brise aus dem Schneeland im Osten und Süden zu fürchten. Es war schrecklich und zugleich seltsam demütigend, erkennen zu müssen, wie leicht körperliches Unbehagen die Macht über einen übernehmen konnte, indem es sich wie Giftgas ausbreitete, bis es ganz und gar von einem Besitz ergriffen hatte. Trauer? Verlust? Was bedeuteten solche Dinge schon, wenn man spüren konnte, wie die Kälte auf dem Vormarsch war, wie sie über Finger und Zehen vordrang, über die beschissene Nase hinaufkroch, um worauf abzuzielen? Natürlich aufs Gehirn, wenn’s beliebt. Und aufs Herz. Im Würgegriff solcher Kälte waren Trauer und Verlust nichts als Wörter. Nein, nicht einmal das. Nur Laute. Bedeutungsloses Gequake, während man zitternd im Sternenlicht saß und auf den Morgen wartete, der nie kommen würde.
Noch schlimmer wurde alles durch das Wissen, dass es um sie herum eigentlich reichlich Brennmaterial gab, weil sie inzwischen ein von Leben erfülltes Gebiet erreicht hatten, das Roland das »Unterschneeland« nannte. Es bestand aus sanft ansteigenden grasigen Hügeln (das Gras war jetzt größtenteils weiß und abgestorben) und flachen Tälern mit einzelnen Waldstücken und zugefrorenen Bächen. Noch bei Tageslicht hatte Roland ihr mehrere Löcher im Eis gezeigt und erklärt, dass diese von Rotwild stammten. Er zeigte ihr auch mehrere Haufen Losung. Bei Tageslicht waren solche Fährten interessant, sogar hoffnungsvoll gewesen. Aber in der Tiefe dieser endlosen Nacht, in der sie auf ihr ständiges leises Zähneklappern horchte, bedeuteten sie nichts, Eddie bedeutete nichts, auch Jake nicht. Der Dunkle Turm bedeutete so wenig wie inzwischen auch das große Feuer, das sie am Rand der Schlossvorstadt entzündet hatten. Sie konnte sich an sein Aussehen erinnern, aber das Gefühl von
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