Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
und Susannahs zweite Kugel traf sie auf dem höchsten Punkt ihres Sprunges, sodass sie tot aufkam, ein Bein abgeknickt und gebrochen, alle Grazie entschwunden.
Sie hörte Roland dreimal schießen, kümmerte sich aber nicht darum, ob er getroffen hatte; sie hatte ihre eigene Arbeit zu erledigen, und sie erledigte sie gut. Jede der restlichen vier Patronen in der Trommel traf einen Hirsch, von denen nur einer sich noch bewegte, als er zusammenbrach. Sie verschwendete keinen Gedanken daran, dass das eigentlich erstaunlich gute Schießleistungen waren, vor allem mit einer Faustfeuerwaffe; sie war schließlich ein Revolvermann, und das hier war ihr Beruf.
Außerdem war es am heutigen Morgen windstill.
Das halbe Rudel lag jetzt tot in der grasigen Senke unter ihr. Die restlichen Tiere drehten bis auf eines scharf nach links ab und flüchteten den Hügel hinunter in Richtung Bach. Im nächsten Augenblick waren sie in der Deckung einiger Weiden verschwunden. Das letzte Tier, ein Jährling, kam genau auf sie zu. Susannah hielt sich nicht erst damit auf, den Revolver mit einer der Patronen nachzuladen, die aufgehäufelt auf einem quadratischen Stück Hirschleder neben ihr lagen. Stattdessen zog sie einen der Orizas heraus, wobei ihre Finger automatisch den stumpfen Griffbereich fanden.
»’Riza!«, rief sie und warf den Teller. Er flitzte mit seinem unheimlichen Heulen übers trockene Gras, stieg dabei etwas an und traf den laufenden Hirsch schließlich mitten am Hals. Blutstropfen, vor dem weißen Himmel ganz schwarz, bildeten eine fliegende Girlande um seinen Kopf. Kein Fleischerbeil hätte sauberere Arbeit leisten können. Der Hirsch lief noch einen Augenblick lang weiter, achtlos und kopflos, während sein jagendes Herz mit dem letzten halben Dutzend Schläge weiter Blut aus dem Halsstumpf pumpte. Dann krachte er kaum zehn Schritte vor ihrem Versteck auf seine gespreizten Vorderläufe herab und färbte das trockene gelbe Gras leuchtend blutrot.
Die Qualen der endlos langen Nacht waren vergessen. Das taube Gefühl in Händen und Füßen war verschwunden. Sie empfand keine Trauer mehr, keinen Verlust, keine Angst. In diesem Augenblick war Susannah genau die Frau, zu der das Ka sie gemacht hatte. Die Mischung aus Pulverdampf und Blutgeruch, die von dem erlegten Hirsch aufstieg, war bitter; zugleich war sie der süßeste Duft der Welt.
Susannah richtete sich auf ihren Beinstümpfen auf, hielt Rolands Revolver weiter mit der rechten Hand umklammert und warf sich gen Himmel in eine Y-Pose. Dann stieß sie einen gellend lauten Schrei aus. Er enthielt keine Worte, konnte auch keine enthalten. Im Augenblick unserer größten Triumphe finden wir nie Worte.
4
Roland hatte darauf bestanden, dass sie ein riesiges Frühstück zu sich nahmen, und Susannahs Einwand, kaltes Cornedbeef schmecke wie klumpiger Fleischbrei, ließ ihn unbeeindruckt. Als seine schicke goldene Taschenuhr zwei Uhr nachmittags anzeigte – mit anderen Worten zu der Zeit, als das stetige kalte Nieseln allmählich in Schneeregen überging –, war sie dann froh darüber. Sie hatte niemals schwerer gearbeitet, und dieser Arbeitstag war noch nicht zu Ende. Roland war die ganze Zeit neben ihr, arbeitete trotz seines sich verschlimmernden Hustens ebenso unermüdlich. Sie hatte Zeit (während ihres kurzen, aber absurd köstlichen Mittagsmahls aus scharf angebratenen Hirschsteaks), darüber nachzudenken, wie eigenartig er war, wie bemerkenswert. Nach all dieser Zeit, all diesen Abenteuern, hatte sie ihn noch immer nicht ganz ergründet. Nicht einmal andeutungsweise. Sie hatte ihn lachen und weinen sehen, töten und tanzen; sie hatte ihn schlafen und im Schutz von Büschen mit heruntergelassener Hose und nacktem Hintern auf einem Baumstamm, den er als Stamm der Erleichterung bezeichnete, hocken sehen. Sie hatte nie mit ihm geschlafen, wie eine Frau mit einem Mann schlief, aber sie glaubte, ihn unter sämtlichen anderen Umständen erlebt zu haben, aber trotzdem … Roland blieb unergründlich.
»Dein Husten klingt irgendwie immer mehr nach Lungenentzündung«, bemerkte Susannah, kurz nachdem der Regen eingesetzt hatte. Unterdessen waren sie bei dem Teil ihrer Tagesarbeit, den Roland als Aven-car bezeichnete: das erlegte Wild abtransportieren und Vorbereitungen für die Weiterverarbeitung treffen.
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte Roland. »Ich habe alles, was ich brauche, um es zu kurieren.«
»Wirklich?«, fragte sie zweifelnd.
»Yar. Und
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