Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Sayres Büro gesehen.
Dandelo hatte seinem Gefangenen nur eben genug Essen gegeben, um ihn am Leben zu erhalten, und ihm regelmäßig seine Emotionen gestohlen: zweimal in der Woche, manchmal dreimal, ab und zu auch viermal. Immer wenn Patrick zu der Überzeugung gelangt war, das nächste Mal nicht mehr überleben zu können, war jemand vorbeigekommen. Erst in letzter Zeit waren Patrick die schlimmsten Ausschweifungen Dandelos erspart geblieben, weil häufiger »Besuch« gekommen war als je zuvor. Als sie später an diesem Abend im Heu lagen, erzählte Roland Susannah, er glaube, dass viele der letzten Opfer Dandelos Flüchtlinge aus Le Casse Roi Russe oder der das Schloss umgebenden Stadt gewesen seien. Susannah hatte durchaus Verständnis für die Denkweise solcher Flüchtlinge: Der König ist fort, also hauen wir schleunigst ab, solange wir können. Schließlich könnte es sich Big Red in den Kopf setzen, wieder zurückzukommen, und immerhin ist er völlig durchgeknallt, hat einen Dachschaden, ist effektiv übergeschnappt.
Manchmal hatte Joe vor seinem Gefangenen seine wahre Dandelo-Gestalt angenommen, um dann vom Entsetzen des Jungen zu zehren. Allerdings hatte er von seiner gefangen gehaltenen Kuh weit mehr als nur Entsetzen gefordert. Susannah vermutete, dass unterschiedliche Emotionen auch unterschiedlich schmeckten: als äße man an einem Tag Schwein, am nächsten Tag Huhn und am übernächsten Fisch.
Patrick konnte zwar nicht sprechen, aber er konnte beredt gestikulieren. Und er konnte weit mehr als das, sobald Roland ihnen einen seltsamen Fund zeigte, den er in der Speisekammer gemacht hatte. Auf einem der Regale ganz oben hatte ein Stapel großer Zeichenblöcke mit dem Aufdruck MICHELANGELO – SPEZIELL FÜR KOHLE gelegen. Zeichenkohle gab es zwar nicht, aber neben den Blöcken hatte ein von einem Gummiband zusammengehaltener Packen fabrikneuer HB-Bleistifte von Faber gelegen. Was diesen Fund als besonders eigenartig qualifizierte, war die Tatsache, dass jemand (vermutlich Dandelo) von allen Bleistiften sorgfältig den Radiergummi abgeschnitten hatte. Die Gummis lagen mit einigen Büroklammern und einem Bleistiftspitzer, der wie die Pfeifen auf der Unterseite der wenigen verbliebenen Orizas aus der Calla Bryn Sturgis aussah, in einem Konservenglas. Als Patrick die Zeichenblöcke sah, leuchteten seine sonst so glanzlosen Augen sofort auf, und er streckte beide Hände sehnsüchtig danach aus, wobei er drängende Heultöne von sich gab.
Roland sah zu Susannah hinüber. Sie zuckte die Achseln und sagte: »Mal sehen, was er kann. Allerdings habe ich eine ziemlich gute Vorstellung davon – du nicht auch?«
Wie sich zeigte, hatte Patrick Danville ziemlich viel drauf. Sein Zeichentalent war nichts weniger als erstaunlich. Und seine Bilder verliehen ihm das, was ihm an Stimme gebrach. Er zeichnete rasch und mit offensichtlichem Vergnügen; ihre bestürzend klaren Aussagen schienen ihn keineswegs zu beunruhigen. Eines der Bilder zeigte Joe Collins, wie er – die Zähne zu einem befriedigten Grinsen gefletscht – einen Axthieb gegen den Hinterkopf eines ahnungslosen Besuchers führte. Neben den Auftreffpunkt der Axtschneide hatte der Junge wie in einem Comic in großen Lettering-Buchstaben RUMS ! und SPRITZ ! geschrieben. Über Collins’ Kopf zeichnete Patrick eine Gedankenblase, in der die Worte Nimm das, du Trottel ! standen. Ein weiteres Bild zeigte Patrick selbst, wie er hilflos vor Lachen, das mit schrecklicher Genauigkeit abgebildet war (sodass das über seinen Kopf gekritzelte Ha! Ha! Ha! eigentlich überflüssig war), auf dem Boden seiner Zelle lag, während Collins mit in die Hüften gestemmten Armen über ihm stand und ihn beobachtete. Dann blätterte Patrick diese Darstellung um und zeichnete ein neues Bild, das Collins auf den Knien liegend zeigte, wie er eine Hand in Patricks Haar krallte, während er die gespitzten Lippen dicht an den zu qualvollem Lachen verzerrten Mund des Jungen heranbrachte. Mit geübtem Strich (die Bleistiftspitze schien das Papier zu keinem Zeitpunkt zu verlassen) zeichnete Patrick über dem Kopf des Alten wieder eine Gedankenblase, in die er diesmal sieben Buchstaben und zwei Ausrufezeichen schrieb.
»Was heißt das?«, fragte Roland, der sichtlich fasziniert war.
»Mmmm! Gut!«, antwortete Susannah. Ihre Stimme klang angewidert und zitterte leicht.
Klammerte man die Themen aus, hätte Susannah ihm stundenlang beim Zeichnen zusehen können; eigentlich tat sie das
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