Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Gegenstände waren. Der Schrei erklang wieder: eine Mischung aus Schluchzen und Kreischen. Über ihnen, nun nur noch schwach und gedämpft, war das Heulen und Brausen des Windes zu hören.
Roland wandte sich nach links und folgte einem im Zickzack verlaufenden Gang zwischen Kisten, die auf beiden Seiten bis in Kopfhöhe aufgestapelt waren. Susannah blieb mit reichlich Abstand hinter ihm und sah sich immer wieder über die Schulter um. Zugleich horchte sie aufmerksam nach oben, um einen etwaigen Alarmruf Oys nicht zu überhören. Unterwegs sah sie einen Stapel Kisten, die mit TEXAS INSTRUMENTS beschriftet waren, und einen aus Kisten, auf denen in Schablonenschrift HO FAT CHINESE FORTUNE COOKIE CO. stand. Sie war keineswegs überrascht, hier den Scherznamen ihres längst zurückgelassenen Taxis zu sehen; überraschen konnte sie schon lange nichts mehr.
Auf einmal blieb Roland abrupt stehen. »Tränen meiner Mutter«, sagte er mit leiser Stimme. Diesen Ausdruck hatte sie erst einmal von ihm gehört, nämlich als sie auf eine in eine Schlucht gestürzte Hirschkuh gestoßen waren, die mit gebrochenen Hinterläufen und einem gebrochenen Vorderlauf verhungernd dalag und blicklos zu ihnen aufsah, weil die Fliegen bereits die Augen des unglücklichen Tieres herausgefressen hatten.
Susannah blieb, wo sie war, bis er sie zu sich heranwinkte, und rückte dann rasch an seine rechte Seite auf, indem sie sich mit den Handflächen vorwärtsschob.
In der äußersten Ecke von Dandelos gemauertem Keller – in der Südostecke, wenn sie die Himmelsrichtungen richtig einschätzte – befand sich eine primitive Gefängniszelle. Die Tür bestand aus aufeinander geschweißten Stahlstangen. In der Nähe stand noch das Schweißgerät, mit dem Dandelo sie hergestellt haben musste … wenn auch vor langer Zeit, wie eine dicke Staubschicht auf der Azetylenflasche zeigte. Knapp außer Reichweite des Gefangenen – aber absichtlich nahe genug, um ihn zu quälen, dessen war Susannah sich sicher – hing an einem ins Mauerwerk getriebenen S-förmigen Haken ein großer, altmodischer
(dad-a-chum dad-a-cha)
silberner Schlüssel. Der betreffende Gefangene stand an der Zellentür und streckte ihnen seine schmutzigen Hände entgegen. Er war so ausgezehrt, dass er Susannah an bestimmte schreckliche Aufnahmen aus Konzentrationslagern erinnerte, die sie einmal gesehen hatte: Fotos von Überlebenden aus Auschwitz und Bergen-Belsen und Buchenwald, lebende (wenn auch nur mit knapper Not) Anklagen gegen die gesamte Menschheit, wie sie so in ihrer gestreiften Häftlingskleidung dastanden, die ihnen am Leib schlotterte, noch immer mit diesen grässlichen Pagenmützen auf dem Kopf und ihren schrecklich wachen Augen, Augen mit einem Ausdruck vollen Bewusstseins. Wollte Gott, wir wüssten nicht, was wir geworden sind, sagten diese Blicke, aber leider wissen wir es.
Etwas Ähnliches lag in Patrick Danvilles Augen, als er nun die Hände ausstreckte und seine unverständlichen Bittlaute lallte. Aus der Nähe klangen sie für Susannahs Ohr wie die spöttischen Rufe irgendeines Urwaldvogels auf der Tonspur eines Kinofilms: Ei-jie, ei-jie, ei-jauk, ei-jauk.
Roland nahm den Schlüssel vom Haken und trat an die Tür. Eine von Danvilles Händen krallte nach seinem Hemd, aber der Revolvermann schob sie fort. Aus dieser impulsiven Geste sprach keinerlei Zorn, wie Susannah fand, aber das hagere Wesen in der Zelle wich mit fast aus den Höhlen quellenden Augen zurück. Das Haar war lang – es hing ganz bis auf die Schultern herab –, aber auf den Wangen sprosste nur eine Andeutung von Bartwuchs. Lediglich an Kinn und Oberlippe war er etwas stärker. Susannah schätzte den Jungen auf siebzehn, bestimmt nicht viel älter.
»Nichts für ungut, Patrick«, sagte Roland wie in reinem Plauderton. Er steckte den Schlüssel ins Schloss. »Du bist doch Patrick? Du Bist doch Patrick Danville?«
Das abgemagerte Wesen in den schmutzigen Jeans und dem wallenden grauen Hemd (das ihm bis zu den Knien herabhing) wich in den hintersten Winkel seiner dreieckigen Zelle zurück, ohne ein Wort zu sagen. Als es hinter sich Mauerwerk spürte, ließ es sich neben dem Eimer, den Susannah für einen Klosettkübel hielt, langsam zu Boden gleiten, wobei das Vorderteil seines Hemds sich erst zusammenballte, um ihm dann wie Wasser in den Schritt zu fließen, während seine Knie immer höher ragten und zuletzt sein abgezehrtes, verängstigtes Gesicht fast einrahmten. Als Roland die Zellentür
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