Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
wie ein Mopp von einer Seite zur anderen flog.
»Was …«, begann Roland.
»Pst!«, machte Susannah unwillig nach hinten und wandte sich dann wieder dem Jungen zu. »Mach den Mund auf, Patrick, und zeigs uns. Dann bringen wir dich hier raus, und du brauchst nie wieder hierher zurück. Brauchst dich nie mehr von Dandelo aussaugen zu lassen.«
Patrick sah sie flehend an, aber Susannah erwiderte nur seinen Blick. Endlich schloss er die Augen und öffnete langsam den Mund. Seine Zähne waren da, aber die Zunge fehlte. Die Stimme des Gefangenen – oder zumindest die Worte, die er sprach – musste Dandelo irgendwann so lästig geworden sein, dass er ihm die Zunge herausgerissen hatte.
7
Zwanzig Minuten später standen die beiden an der Küchentür und sahen Patrick Danville dabei zu, wie er eine Schale Suppe aß. Wenigstens die Hälfte ging über das graue Hemd des Jungen, aber Susannah fand, dass das nicht weiter schlimm war; in der Speisekammer standen reichlich Suppendosen, und in jenem Schlafraum der Hütte gab es auch weitere Hemden. Ganz zu schweigen von Collins’ schwerem Parka, der in dem kleinen Vorraum an einem Haken hing und in Zukunft wohl von Patrick getragen werden würde. Was die Überreste Dandelos – des ehemaligen Joe Collins – betraf, so hatten sie die in drei Decken gewickelt und ohne weitere Umstände in den Schnee hinausbugsiert.
»Dandelo war ein Vampir, der nicht von Blut, sondern von Emotionen gelebt hat«, sagte Susannah. »Patrick hier … Patrick war seine Kuh. Es gibt zwei Möglichkeiten, sich von einer Kuh zu ernähren: Fleisch oder Milch. Das Dumme an Fleisch ist, dass es fort ist, sobald man die besten Stücke, die nicht ganz so guten Stücke und schließlich die Kutteln gegessen hat. Wenn man sich dagegen mit der Milch begnügt, kann man endlos lange weitermachen … immer vorausgesetzt, dass man die Kuh gelegentlich selbst füttert.«
»Wie lange, glaubst du, ist er dort unten eingesperrt gewesen?«, fragte Roland.
»Keine Ahnung.« Aber sie erinnerte sich an den Staub auf der Azetylenflasche, erinnerte sich sehr wohl daran. »Jedenfalls ziemlich lange. Dem armen Kerl muss es wie eine Ewigkeit vorgekommen sein.«
»Und es hat wehgetan.«
»Schrecklich. Aber so schmerzhaft es auch gewesen sein muss, als Dandelo dem armen Jungen die Zunge herausgerissen hat … die emotionale Blutsaugerei war bestimmt schlimmer. Du siehst ja, in welchem Zustand er ist.«
Das sah Roland allerdings. Er sah auch noch etwas anderes. »Wir dürfen ihn nicht diesem Sturm aussetzen. Selbst wenn wir ihm drei Lagen Kleidung anziehen würden, wäre das sein Tod, davon bin ich überzeugt.«
Susannah nickte. Davon war auch sie überzeugt. Davon und von etwas anderem: Sie konnte unmöglich in diesem Haus bleiben. Das konnte ihr Tod sein.
Roland stimmte zu, als sie das einwandte. »Wir quartieren uns draußen in der Scheune ein, bis der Sturm vorbei ist. Dort ist es zwar kalt, aber ich sehe zwei mögliche Vorteile: Mordred könnte kommen, und Lippy könnte zurückkommen.«
»Du würdest sie beide töten?«
»Aye, wenn ich kann. Hättest du damit Schwierigkeiten?«
Sie dachte darüber nach, dann schüttelte sie den Kopf.
»Also gut, dann sollten wir jetzt zusammensuchen, was wir von hier mitnehmen wollen, in den nächsten zwei Tagen werden wir nämlich kein Feuer haben. Vielleicht sogar drei oder vier Tage lang nicht.«
8
Wie sich zeigte, dauerte es zwei Tage und drei Nächte, bis der Schneesturm an seiner eigenen Wut erstickte und endlich abflaute. In der Abenddämmerung des zweiten Tages kam Lippy aus dem Schneetreiben gehumpelt, und Roland jagte dem Tier über den blinden Augen eine Kugel in die Stirn. Mordred unterdessen ließ sich zu keiner Zeit blicken, obwohl Susannah ihn in der zweiten Nacht irgendwo in der Nähe spürte. Das tat wohl auch Oy, jedenfalls hatte er am Scheunentor auf den Hinterbeinen gestanden und wütend ins Schneetreiben hinausgekläfft.
In der Zwischenzeit brachte Susannah weit mehr über Patrick Danville in Erfahrung, als sie erwartet hätte. Sein Verstand hatte unter der Gefangenschaft stark gelitten, was keine Überraschung war. Erstaunlich war eher seine Fähigkeit, sich davon zu erholen, auch wenn sie natürlich begrenzt war. Sie fragte sich, ob sie selbst nach einem solchen Martyrium überhaupt jemals wieder auf die Beine gekommen wäre. Vielleicht hatte seine Begabung etwas damit zu tun. Eine Probe seines Talents hatte sie ja bereits in
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