Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
konnte. Er begriff, dass der Künstler sie irgendwie auf zeichnende Weise geschaffen hatte – was für ein gottähnliches Talent! Mordred sehnte sich danach, ihn sich nur auf die Chance hin einzuverleiben, dass dieses Talent übertragbar war! Das bezweifelte er zwar, wurde die spirituelle Seite des Kannibalismus doch immer gewaltig überschätzt, aber was konnte es schon groß schaden, sich selbst davon zu überzeugen?
Er beobachtete ihr Palaver. Er sah – und verstand auch – ihre Bitten an den Künstler und den Köter, ihr weinerliches Flehen
(komm mit, damit ich nicht allein gehen muss, komm schon, sei kein Spielverderber, seid beide keine Spielverderber, bu-hu-hu)
und genoss ihren Kummer und ihre Wut dann, nachdem Junge und Töle ihr beide diesen Wunsch abgeschlagen hatten; Mordred frohlockte darüber, obwohl er wusste, dass dies sein Vorhaben erschweren würde. (Zumindest ein wenig, denn was konnten ein stummer Junge und ein Billy-Bumbler schon gegen ihn ausrichten, wenn er seine Spinnengestalt annahm und zum Angriff überging.) Einen Augenblick lang befürchtete er schon, sie könnte in ihrem Zorn den Alten Weißen Daddy mit dessen eigener Waffe erschießen, und das wollte Mordred ganz entschieden nicht. Der Alte Weiße Daddy war für ihn bestimmt. Das hatte die Stimme vom Dunklen Turm herab ihm versprochen. Er war krank, gewiss, starb vielleicht sogar, aber der Alte Weiße Daddy war trotzdem noch dafür bestimmt, sein Mahl zu werden, nicht das der Schwarzdrossel-Mami. Die hätte das Fleisch gewiss verwesen lassen, ohne einen einzigen Bissen davon zu kosten! Aber sie erschoss ihn nicht. Stattdessen küsste sie ihn. Das wollte Mordred nicht sehen, weil er sich dabei nur noch schlechter fühlte, und ließ deshalb das Fernglas sinken. Er lag im Gras unter einer kleinen Gruppe von Erlen, zitterte, fror und schwitzte abwechselnd, bemühte sich, nicht zu kotzen (er hatte den ganzen gestrigen Tag mit Kotzen und Scheißen verbracht, so kam es ihm vor, bis seine Bauchmuskeln von der Anstrengung, solche Mengen in beide Richtungen befördern zu müssen, geschmerzt hatten und er nichts mehr heraufwürgen konnte als dicke schleimige Stränge, während aus seinem Hintern nichts mehr kam als braune Brühe und gewaltige hohle Furze), und als er schließlich wieder durchs Fernglas sah, konnte er gerade noch beobachten, wie das Heck des kleinen Elektrokarrens verschwand, als die Schwarzdrossel-Mami damit durch die Tür fuhr. Irgendetwas wirbelte um sie herum. Möglicherweise war das Staub, wenngleich er es eher für Schnee hielt. Außerdem war Gesang zu hören. Davon wurde ihm fast so schlecht wie vorher, als er gesehen hatte, wie sie den Alten Weißen Revolvermann-Daddy geküsst hatte. Dann knallte die Tür hinter ihr zu, und der Gesang verstummte, und der Revolvermann saß einfach nur in ihrer Nähe und verbarg das Gesicht in den Händen, bu-hu-hu, schluchz-schluchz. Der Bumbler tappte zu ihm und legte die lange Schnauze auf einen seiner Stiefel, als wollte er ihn trösten, wie süß, wie ekelerregend süß. Unterdessen war es Tag, und Mordred döste ein wenig. Als er wieder aufwachte, konnte er die Stimme des Alten Weißen Daddys hören. Mordreds Versteck lag im Windschatten, sodass er jedes Wort deutlich hören konnte: »Oy? Willst du nicht wenigstens einen kleinen Bissen nehmen?« Der Bumbler wollte jedoch nicht, woraufhin der Revolvermann das Essen, das für den pelzigen kleinen Kobold bestimmt gewesen war, in der Gegend verstreute. Später, nachdem sie aufgebrochen waren (wobei der Alte Weiße Revolvermann-Daddy – mit hängendem Kopf und noch mutloser hängenden Schultern – das Wägelchen zog, das der Roboter ihnen gebaut hatte), schlich Mordred sich zu ihrem Lagerplatz. Er aß tatsächlich etwas von dem verstreuten Essen, das bestimmt nicht vergiftet war, weil Roland dem Bumbler sonst ja nichts davon angeboten hätte, hörte aber schon nach etwa vier Stück Fleisch auf, weil er wusste, dass sein Magen alles wieder nach Nord und Süd ausspucken würde, wenn er mehr aß. Das durfte er nicht zulassen. Wenn er nicht wenigstens etwas Nahrung bei sich behielt, würde er bald zu schwach sein, um ihnen noch folgen zu können. Und er musste ihnen folgen, musste noch eine kleine Weile in ihrer Nähe bleiben. Heute Nacht würde es geschehen müssen. So würde es sein müssen, weil der Alte Weiße Daddy morgen den Dunklen Turm erreichen würde – und dann wäre es fast sicher zu spät.
Das sagte ihm sein Innerstes.
Weitere Kostenlose Bücher