Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
anfühlt … wie auf brutale Weise richtig. Sich von ihm zu trennen, überlegt sie, wird wie der Abschied von einem Geliebten sein. Und sie muss sich nicht von ihm trennen, stimmt’s? Die Frage ist, wen liebt sie mehr? Den Mann oder die Waffe? Alle übrigen Wahlmöglichkeiten werden davon abhängen.
Auf einen Impuls hin klappt sie die Trommel heraus, lässt sie rotieren und stellt fest, dass die Patronen alt aussehen, ihre Hülsen matt.
Mit denen kannst du nicht mehr schießen, denkt sie und fügt in Gedanken hinzu, ohne zu wissen, weshalb … und was der Ausdruck wirklich bedeutet: Das sind Blindgänger.
Susannah sieht durch den Lauf und ist seltsam betrübt – aber nicht überrascht –, als sich zeigt, dass er kein Licht durchlässt. Er ist verstopft. Dem Aussehen nach schon seit Jahrzehnten. Dieser Revolver wird niemals mehr schießen. Also muss sie sich doch nicht entscheiden. Diese Waffe ist unbrauchbar.
Sie hält den Revolver mit Sandelholzgriff in einer Hand, während sie mit der anderen den Gasgriff dreht. Der kleine Elektrokarren – dem sie den Namen Ho Fat III gegeben hat, obgleich diese Tatsache bereits aus ihrem Gedächtnis zu schwinden beginnt – rollt lautlos vorwärts. Sie kommt an einem grünen Abfallkorb vorbei, auf dem in Schablonenschrift HALT DIE WEGE SAUBER ! steht. In diesen Abfallkorb wirft sie Rolands Revolver. Das tut ihr zwar in der Seele weh, aber sie zögert keinen Augenblick. Die schwere Waffe versinkt in den zusammengeknüllten Fastfoodkartons, Werbebeilagen und alten Zeitungen wie ein Stein im Wasser. Sie ist noch immer Revolvermann genug, um bitter zu bereuen, dass sie eine Waffe (auch wenn der Trip zwischen den Welten diese ruiniert hat) mit solcher Vorgeschichte wegwerfen muss, aber sie ist auch schon genug von der Frau, die in der Zukunft auf sie wartet, um nicht innezuhalten oder sich umzusehen, sobald das Werk getan ist.
Bevor sie den Mann mit dem Pappbecher erreichen kann, dreht er sich um. Er trägt tatsächlich ein Sweatshirt mit dem Aufdruck ICH TRINKE NOZZ-A-LA!, aber diese Tatsache nimmt sie kaum wahr. Dass er es ist, das registriert sie. Es ist Edward Cantor Dean. Aber dann wird selbst das unwichtig, weil das, was sie in seinem Blick sieht, genau das ist, was sie befürchtet hat. Was sie darin sieht, ist völlige Verwirrung. Er kennt sie nicht.
Dann lächelt er zögernd, und es ist das Lächeln, an das sie sich erinnert, das sie immer geliebt hat. Außerdem ist er clean, das weiß sie sofort. Sie sieht es an seinem Gesicht. Vor allem in seinen Augen. Die Weihnachtssänger aus Harlem singen, und er hält ihr den Becher mit heißer Schokolade hin.
»Gott sei Dank«, sagt er. »Ich dachte wirklich schon, ich müsste sie selbst trinken. Dass die Stimmen mich getäuscht haben, dass ich allmählich durchdrehe. Dass … na ja …« Er spricht nicht weiter, sieht jetzt nicht nur verwirrt, sondern ängstlich aus. »Hören Sie, Sie sind doch meinetwegen hier, stimmt’s? Bitte sagen Sie mir, dass ich kein völliger Idiot bin. Ich bin nämlich nervös, Lady, wie ’ne langschwänzige Katze in einem Zimmer voller Schaukelstühle.«
»Das sind Sie nicht«, sagt sie. »Kein völliger Idiot, meine ich.« Sie erinnert sich daran, wie Jake von den Stimmen in seinem Kopf erzählt hat, von denen eine laut rief, er sei tot, während die andere ebenso energisch widersprach. Beide völlig überzeugt. Sie ahnt zumindest, wie schrecklich das sein muss, weil sie ein wenig Erfahrung mit anderen Stimmen hat. Mit seltsamen Stimmen.
»Gott sei Dank«, sagt er. »Ihr Name ist Susannah?«
»Ja«, sagt sie. »Mein Name ist Susannah.«
Ihre Kehle ist schrecklich trocken, aber sie bringt immerhin die Worte heraus. Sie nimmt ihm den Pappbecher aus der Hand und schlürft heiße Schokolade durch das Sahnehäubchen. Sie ist süß und gut, ein Geschmack von dieser Welt. Die Geräusche der hupenden Taxis, deren Fahrer sich beeilen, noch etwas zu verdienen, bevor der Schneesturm den Verkehr zum Erliegen bringt, sind ebenso gut. Er streckt grinsend eine Hand aus und wischt einen winzigen Sahneklecks von ihrer Nasenspitze. Diese Berührung ist elektrisierend, und sie sieht, dass auch er das spürt. Ihr fällt ein, dass er sie wieder zum ersten Mal küssen und wieder zum ersten Mal mit ihr schlafen und sich wieder zum ersten Mal in sie verlieben wird. Das alles mag er wissen, weil die Stimmen es ihm gesagt haben, aber sie weiß es aus einem besseren Grund: weil diese Dinge bereits geschehen sind. Ka
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