Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
erstmals wieder zusammen sind und einen Schulchor »What Child Is This« singen hören. Ihr könnt euch mit dem Wissen zufrieden geben, dass früher oder später auch Oy (vermutlich eine Hundeversion mit langem Hals, seltsam goldgeränderten Augen und einem Kläffen, das auf unheimliche Weise wie gesprochene Worte klingt) auf der Bildfläche erscheinen wird. Das ist eine hübsche Vorstellung, oder nicht? Ich meine schon. Und auch der Vorstellung von einem glücklichen, zufriedenen Leben ziemlich nahe. Für einen staatlichen Auftrag ausreichend, wie Eddie sagen würde.
Solltet ihr weiterlesen, werdet ihr bestimmt enttäuscht, vielleicht sogar untröstlich sein. Ich habe noch einen Schlüssel an meinem Gürtel hängen, aber der sperrt nur die letzte Tür auf, die mit den Symbolen. Was dahinter liegt, verbessert euer Liebesleben nicht, lässt auf der kahlen Stelle am Hinterkopf kein neues Haar wachsen und verlängert eure Lebenserwartung nicht um fünf Jahre (nicht einmal um fünf Minuten). Ein Happyend gibt es nicht. Ich habe nie eines erlebt, das ein Gegenstück zu »Es war einmal« sein könnte.
Enden sind herzlos.
Ende ist nur ein anderes Wort für Leb wohl.
2
Wollt ihr trotzdem?
Nun gut, dann kommt mit. (Hört ihr mich seufzen?) Hier ist der Dunkle Turm am Ende der Endwelt. Seht ihn, ich bitte euch.
Seht ihn sehr wohl. Hier ist der Dunkle Turm bei Sonnenuntergang.
3
Roland erreichte ihn mit dem merkwürdigsten Gefühl des Wiedererkennens; mit etwas, was Susannah und Eddie als Déjà-vu-Gefühl bezeichnet hätten.
Die Rosen auf dem Can’-Ka No Rey wichen vor ihm zurück, sodass ein Pfad zum Dunklen Turm entstand, und die gelben Sonnen tief in ihren Blüten schienen ihn wie Augen zu beobachten. Und während er auf diesen dunkelgrauen Rundturm zuschritt, begann Roland zu spüren, wie er der Welt, wie er sie stets gekannt hatte, zu entgleiten begann. Er rief die Namen seiner Freunde und Geliebten, wie er’s sich immer vorgenommen hatte; rief sie in der Abenddämmerung mit lauter, volltönender Stimme, weil er nun keine Kräfte mehr aufzusparen brauchte, um gegen die Verlockung des Turms anzukämpfen. Ihr – endlich – nachgeben zu können war die größte Erleichterung seines Lebens.
Er rief die Namen seiner compadres und amoras, und obwohl jeder aus tiefstem Herzen kam, schienen alle immer weniger mit dem Rest seines Ichs zu tun zu haben. Seine Stimme rollte zum dunkler werdenden roten Horizont davon, Name für Name. Er rief Eddies und Susannahs Namen. Er rief Jakes Namen und zuletzt seinen eigenen. Als sein Klang verhallt war, ertönte ein gewaltiger Hornstoß – nicht vom Turm selbst, sondern von den Rosen, die seine Umgebung in weitem Umkreis wie ein Teppich bedeckten. Dieses Horn war die Stimme der Rosen, die ihn mit königlichem Schmettern willkommen hieß.
In meinen Träumen war das stets mein Hifthorn, dachte er. Dabei hätte ich es besser wissen müssen, habe ich meines doch mit Cuthbert auf dem Jericho Hill verloren.
Von oben kam eine flüsternde Stimme: Sich zu bücken und es aufzuheben wäre das Werk von drei Sekunden gewesen. Sogar inmitten von Rauch und Tod. Drei Sekunden. Zeit, Roland – darauf läuft es immer wieder hinaus.
Das war, glaubte er, die Stimme des Balkens – des einen, den sie gerettet hatten. Sprach er aus Dankbarkeit, hätte er sich die Mühe sparen können, denn was nutzten solche Worte ihm jetzt noch? Roland erinnerte sich an eine Zeile aus Brownings Gedicht: Ein Schmack des alten Glücks hilft fürder schreiten.
Das war nie seine Erfahrung gewesen. Wie er aus eigenem Erleben wusste, machten Erinnerungen nur traurig. Sie waren die Nahrung von Poeten und Narren: Süßigkeiten, die in Mund und Kehle einen bitteren Nachgeschmack hinterließen.
Roland blieb für einen Augenblick zehn Schritte von der Geisterholztür im Erdgeschoss des Turms entfernt stehen und ließ die Stimme der Rosen – diesen Hörnerklang zu seiner Begrüßung – verhallen. Das Déjà-vu-Gefühl war weiterhin stark, fast als wäre er tatsächlich schon einmal hier gewesen. Und natürlich war er hier gewesen – in zehntausend die Wirklichkeit vorwegnehmenden Träumen. Er sah zu dem Balkon auf, auf dem der Scharlachrote König gestanden und versucht hatte, dem Ka zu trotzen und ihm den Weg zu versperren. Dort, in Kopfhöhe über der Holzkiste, in der die wenigen übrig gebliebenen Schnaatze gelegen hatten (der alte Wahnsinnige hatte anscheinend doch keine weiteren Waffen
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