Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
erschreckend laut. Er wollte nicht nach unten sehen, aber ihm blieb nichts anderes übrig; wenn er nicht darauf achtete, wohin er trat, wäre sein Schicksal so gut wie besiegelt. Die Felsbrücke begann breit wie ein Dorfweg, aber als er die Mitte erreichte, war sie – wie befürchtet, obwohl er gehofft hatte, seine Augen spielten ihm nur einen Streich – nur noch so breit wie seine Kurzstiefel. Er versuchte mit seitlich ausgestreckten Armen zu gehen, aber die durch die Schlucht wehende Brise blähte sein Hemd auf, sodass er glaubte, er müsse gleich wie ein Drachen aufsteigen. Also ließ er die Arme wieder sinken und setzte leicht schwankend einen Fuß vor den anderen. Er war fest davon überzeugt, dass sein Herz die letzten tollen Schläge hämmerte und sein Verstand die letzten wirren Gedanken dachte.
    Mama wird nie erfahren, was mir zugestoßen ist.
    Auf halber Strecke war die Brücke am schmalsten und auch am dünnsten. Tim konnte ihre Zerbrechlichkeit unter sich spüren, und er konnte deutlich hören, wie der Wind über ihre löchrige Unterseite pfiff. Hier musste er bei jedem Schritt einen Stiefel über den Abgrund schwingen.
    Nicht erstarren, ermahnte er sich, aber er wusste, dass genau das passieren konnte, wenn er zögerte. Dann sah er aus den Augenwinkeln Bewegungen unter sich und zögerte nun doch.
    Aus den Blumen wanden sich lange, lederartige Fangarme. Sie waren oben schiefergrau und unten rosa wie verbrannte Haut. Sie rankten sich mit wellenförmigen Tanzbewegungen immer höher – erst zwei, dann vier, dann acht, dann ein ganzer Wald davon.
    Daria meldete sich wieder. »Ich rate zu mehr Tempo, Tim.«
    Er zwang sich zum Weitergehen. Erst langsam, dann aber schneller, weil die Fangarme immer näher kamen. Bestimmt besaß kein Lebewesen eine so große Reichweite, ganz gleich wie gewaltig das unter den Blumen am Grund der Schlucht versteckte Ungeheuer auch sein mochte, aber als Tim sah, wie die Fangarme sich verjüngten, um noch höher zu reichen, schritt er eilends weiter. Und als die dünnsten und längsten Fangarme schließlich die Unterseite der Brücke erreichten und sich an ihr weitertasteten, rannte er los.
    Der Wasserfall – nicht länger blutrot, sondern verblassend rosa-orange – donnerte vor ihm herunter. Kaltes Spritzwasser benetzte sein heißes Gesicht. Als Tim spürte, dass etwas wie tastend über seinen Stiefel glitt, stürzte er sich mit einem heiseren Aufschrei in die Wasserwand. Einen Augenblick lang fühlte er eine eisige Kälte, die ihn eng umhüllte, dann war er hindurch und wieder auf festem Boden.
    Auch einer der Fangarme kam durch. Er richtete sich auf – vor Nässe triefend wie eine Schlange, die gleich zustoßen wollte –, zog sich dann aber zurück.
    »Daria! Alles in Ordnung mit dir?«
    »Ich bin wasserfest«, antwortete Daria und klang dabei verdächtig selbstgefällig.
    Tim rappelte sich auf und sah sich um. Er befand sich in einer kleinen Felshöhle. An eine der Wände hatte jemand mit wohl ehemals roter Farbe, die aber im Lauf der Jahre (oder sogar Jahrhunderte) zu einem matten Rosa verblasst war, einen rätselhaften Text geschrieben:
    JOHANNES 3,16
    FÜRCHT DIE HÖLLE ERHOF DEN HIMEL
    JESUSMENSCH
    Vor ihm lag ein in den Fels gehauenes, kurzes Treppen haus, durch das nun das letzte Abendlicht einfiel. Rechts daneben stapelte sich ein Durcheinander aus Blechdosen und kaputten Maschinenteilen – Federn, Drahtseile, Zahnräder, Glassplitter und Stücke von grün gestrichenen Brettern mit verschnörkelten Metallverzierungen. Auf der anderen Seite der Treppe lag ein grinsendes Skelett mit etwas auf dem Brustkorb, was eine uralte Feldflasche zu sein schien. Hallo, Tim!, schien dieses Grinsen zu sagen. Willkommen auf der anderen Seite der Welt! Willst du einen Schluck Staub? Ich habe reichlich davon!
    Tim huschte an dem Skelett vorbei die Treppe hinauf. Ihm war völlig klar, dass das Gerippe nicht zum Leben erwachen und wie der Fangarm nach seinen Beinen angeln würde; tot war tot. Trotzdem erschien es ihm sicherer, daran vorbeizuhuschen.
    Als er ins Freie kam, sah er, dass der Pfad wieder in ein Waldstück führte, wobei es allerdings nicht lange bleiben würde. In nicht allzu großer Entfernung wichen die alten Baumriesen nämlich zurück, und die ewig lange Steigung, die er bewältigt hatte, endete auf einer Lichtung, die weit größer war als die, auf der die Bumbler getanzt hatten. Dort ragte ein gewaltiger Stahlgitterturm gen Himmel. An seiner Spitze leuchtete ein

Weitere Kostenlose Bücher