Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
einemmal so schmutzig und unendlich beschissen?
Ihr erhobenes Gesicht war schrecklich in seiner Schönheit, in diesem Licht unwiderstehlich, aber diese Schönheit war seiner Besitzerin, die den Stern mit großen Augen betrachtete und leise lachte, unbekannt.
»Sternenglanz, Sternenpracht«, sagte sie und verstummte. Sie sah ihn an. »Kennst du es, Eddie?«
»Ja.« Eddie hielt den Kopf gesenkt. Seine Stimme hörte sich ganz normal an, aber wenn er den Kopf hob, würde sie sehen, daß er weinte.
»Dann hilf mir. Aber du mußt hinsehen.«
»Okay.«
Er wischte die Tränen in eine Handfläche und sah mit ihr zu dem Stern empor.
»Sternenglanz…« Sie sah ihn an, und er stimmte mit ihr ein. »Sternenpracht…«
Sie streckte tastend die Hand aus, und er ergriff sie, eine so köstlich braun wie helle Schokolade, die andere so weiß wie die Brust einer Taube.
»Erster Stern in dieser Nacht«, sagten sie feierlich gemeinsam, vorerst nur Junge und Mädchen, nicht Mann und Frau, wie sie es später sein würden, wenn sich das Dunkel gänzlich herniedergesenkt haben würde und sie ihm zurief, ob er schon schlief, und er nein sagte, und sie ihn bat, er möge sie in den Arm nehmen, weil sie fror. »Ich wünsch mir, was auch passiert…«
Sie sahen einander an, und er stellte fest, daß auch ihr Tränen die Wangen hinabliefen. Seine eigenen quollen wieder, und er ließ sie vor ihr strömen. Es war keine Schande, sondern grenzenlose Erleichterung.
Sie lächelten einander an.
»Daß mein Wunsch erfüllt wird«, sagte Eddie und dachte: Bitte, immer nur du.
»Daß mein Wunsch erfüllt wird«, wiederholte sie und dachte: Wenn ich an diesem seltsamen Ort sterben muß, dann laß es nicht zu schwer werden und diesen guten jungen Mann bei mir sein.
»Tut mir leid, daß ich geweint habe«, sagte sie und wischte sich die Augen ab. »Normalerweise mache ich das nicht, aber es war…«
»Ein sehr anstrengender Tag«, beendete er ihren Satz.
»Ja. Und du mußt essen, Eddie.«
»Du auch.«
»Ich hoffe nur, daß mir nicht wieder übel wird.«
Er lächelte sie an. »Das glaube ich nicht.«
6
Später, als sich fremde Milchstraßen in einer langsamen Gavotte über ihnen drehten, dachten beide, daß der Liebesakt noch nie so schön, so erfüllt gewesen war.
7
Bei Dämmerung brachen sie eiligst wieder auf, und um neun wünschte sich Eddie, er hätte Roland gefragt, was sie tun sollten, wenn sie an die Stelle kamen, wo die Berge den Strand abschnitten und sie immer noch keine Tür gefunden hatten. Das schien eine einigermaßen wichtige Frage zu sein, denn das Ende des Strandes kam zwangsläufig einmal. Die Berge kamen immer näher und verliefen diagonal auf das Wasser zu.
Der Strand selbst war eigentlich überhaupt kein Strand mehr; der Boden war jetzt fest und überraschend glatt. Etwas – Abrieb, vermutete er, oder Überflutung während einer Regenzeit (seit er in dieser Welt war, hatte er keinen gesehen, nicht einen Tropfen; der Himmel hatte sich ein paarmal bewölkt aber dann waren die Wolken wieder fortgeweht worden) – hatte den größten Teil der vorstehenden Steine abgeschliffen.
Gegen halb zehn rief Odetta: »Halt, Eddie! Halt!«
Er hielt so unvermittelt an, daß sie die Armlehnen des Rollstuhls packen mußte, damit sie nicht herausgeschleudert wurde. Er war schnell wie der Blitz bei ihr vorne.
»Tut mir leid«, sagte er. »Alles in Ordnung?«
»Fein.« Er sah, daß er ihre Aufregung für Angst gehalten hatte. Sie deutete. »Da oben! Siehst du etwas?«
Er schirmte die Augen ab, sah aber nichts. Er blinzelte. Einen Augenblick nur dachte er… nein, das war sicher nur Hitzeflimmern, das von dem harten Boden aufstieg.
»Ich glaube nicht«, sagte er und lächelte. »Außer vielleicht deinen Wunsch.«
»Ich glaube doch!« Sie drehte ihm das lächelnde Gesicht zu. »Sie steht ganz alleine. Fast dort, wo der Strand zu Ende ist.«
Er sah noch einmal hin, und diesmal strengte er sich so sehr an, daß seine Augen feucht wurden. Er glaubte wieder nur einen Augenblick, er hätte etwas gesehen. Hast du, dachte er und lächelte. Du hast ihren Wunsch gesehen.
»Vielleicht«, sagte er, nicht weil er davon überzeugt war, sondern sie.
»Gehen wir!«
Eddie trat wieder hinter den Stuhl; er ließ sich einen Augenblick Zeit und massierte den Rückenansatz, wo sich ein dumpfer Schmerz eingestellt hatte. Sie drehte sich um.
»Worauf wartest du?«
»Du glaubst wirklich, daß wir sie gesehen haben,
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