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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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den Rücken zugekehrt hatte, erkannte Roland den Jungen. Es war der Junge, den er im Rasthaus in der Wüste getroffen hatte, der Junge, den er vor dem Orakel in den Bergen gerettet hatte, der Junge, dessen Leben er geopfert hatte, als er vor der Wahl stand, ihn zu retten oder den Mann in Schwarz endlich einzuholen; der Junge, der gesagt hatte: Dann geh – es gibt andere Welten als diese, bevor er in den Abgrund gestürzt war. Und der Junge hatte ganz eindeutig recht gehabt. Der Junge war Jake.
    Er hielt eine schmucklose braune Papiertüte in der einen und einen blauen Leinenranzen am Deckelgriff in der anderen Hand. An den Kanten, die gegen die Seiten des Ranzens drückten, konnte der Revolvermann sehen, daß er Bücher enthielt.
    Verkehr floß auf der Straße, die der Junge überqueren wollte – eine Straße in derselben Stadt, aus der er den Gefangenen und die Herrin geholt hatte, wurde ihm klar, aber vorerst war das alles unwichtig. Es war nur wichtig, was in den nächsten Sekunden geschehen oder nicht geschehen würde.
    Jake war nicht durch eine magische Tür in der Welt des Revolvermanns gebracht worden; er war durch eine gewöhnlichere, weitaus verständlichere Pforte gekommen: Er war in Rolands Welt hineingeboren worden, weil er in seiner eigenen gestorben war.
    Er war ermordet worden.
    Genauer, er war gestoßen worden.
    Er war auf die Straße gestoßen worden; auf dem Weg zur Schule, mit einem Vesperpaket in der einen und seinen Büchern in der anderen Hand, hatte ihn ein Auto überfahren.
    Der Mann in Schwarz hatte ihn gestoßen.
    Er wird es tun! Er wird es gleich jetzt tun! Das ist meine Strafe dafür, daß ich ihn in meiner Welt habe sterben lassen – ich muß zusehen, wie er in dieser Welt sterben muß, bevor ich es verhindern kann!
    Doch die Beeinflussung eines gleichgültigen Schicksals war zeit seines Lebens Sache des Revolvermanns gewesen – sein Ka, wenn man so wollte –, und daher kam er, ohne nachzudenken, nach vorne und handelte mit fest verwurzelten Reflexen, die schon fast zu Instinkten geworden waren.
    Und während er das tat, blitzte in seinem Kopf ein gleichermaßen ironischer wie gräßlicher Gedanke auf: Was war, wenn der Körper, in den er gekommen war, der des Mannes in Schwarz selbst war? Was war, wenn er dem Jungen zu Hilfe eilen wollte und seine eigenen Hände sah, die ihn stießen? Was war, wenn dieses Gefühl der Kontrolle nur eine Illusion war – und Walters letzter garstiger Scherz, daß Roland selbst den Jungen ermorden würde?
     
     

3
     
    Einen einzigen Augenblick verlor Jack Mort den dünnen, kräftigen Pfeil seiner Konzentration. Als er kurz davor war, nach vorne zu schnellen und den Jungen in den Verkehr zu stoßen, spürte er etwas, das sein Verstand falsch übermittelte, so wie der Körper Schmerzen an einer Stelle fälschlich einer anderen zuschreiben kann.
    Als der Revolvermann nach vorne kam, glaubte Jack, ein Insekt wäre in seinem Nacken gelandet. Keine Wespe oder Biene, nichts tatsächlich Stechendes, aber etwas, das biß und juckte. Möglicherweise ein Moskito. Darauf führte er seine mangelnde Konzentration im entscheidenden Augenblick zurück. Er schlug danach und wandte sich wieder dem Jungen zu.
    Er glaubte, das alles wäre binnen eines winzigen Augenblicks geschehen; tatsächlich waren sieben Sekunden verstrichen. Er spürte weder das rasche Vordringen des Revolvermanns noch seinen gleichermaßen schnellen Rückzug, und keiner der umstehenden Passanten (die zur Arbeit gingen; die meisten kamen aus der U-Bahn-Station am nächsten Block, und ihre Gesichter waren noch vom Schlaf aufgedunsen, die Blicke verinnerlicht) bemerkte, daß sich die Farbe von Jacks Augen hinter der Nickelbrille vorübergehend von ihrem dunkelblauen Farbton zu einem helleren verfärbte. Niemand bemerkte auch, wie die Augen ihre normale kobaltblaue Farbe wieder annahmen, aber als das geschehen war und er sich wieder auf den Jungen konzentrierte, sah er voll ohnmächtigen Zorns, so stechend wie ein Dorn, daß seine Chance dahin war. Die Ampel hatte umgeschaltet.
    Er sah zu, wie der Junge zusammen mit dar anderen Hammelherde die Straße überquerte, dann drehte Jack selbst sich in die Richtung um, aus der er gekommen war, und schob sich drängend gegen den Strom der Passanten.
    »He, Mister! Passen Sie doch auf…«
    Ein milchgesichtiges Teenagermädchen, das er kaum sah. Jack stieß sie grob beiseite und sah nicht einmal zurück, als sie zu keifen anfing, weil ihre Armladung

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