Die Schöne und das Biest
„Verdammtes Ungeheuer!“, hörte Belle ihren Vater in einer für ihn recht untypischen Art und Weise brüllen. Sie saß gerade mit einer Stickarbeit in der Küche vor dem Ofen.
Als sie ihren Vater fluchen hörte, war sie derart zusammengezuckt, dass sie beinahe mit einem Arm gegen den heißen Ofen gestoßen wäre. Irritiert stand sie auf und legte ihr feines Tüchlein samt Nadel und Faden beiseite.
„Vater?“, rief sie, „was ist denn geschehen?“
Zunächst erhielt sie ein Poltern zur Antwort. Die Haustür knallte. Etwas zerbrach.
Belle strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. Mit aufeinandergepressten Lippen wartete sie ab. Sie wusste, dass ihr Vater es nicht leiden konnte, wenn sie ihm nicht ausreichend Zeit zum Hereinkommen ließ. Vor Ungeduld verknotete sie ihre Finger.
Endlich kam ihr Vater vom Flur durch die Küchentür herein. Sein Kopf war hochrot angelaufen. Der Zorn brachte ihn regelrecht zum Glühen.
„Ich verfluche dieses Vieh!“, stieß er aus.
Belle räusperte sich. „Vater“, setzte sie vorsichtig an, „was ist denn geschehen? Etwa schon wieder ein Schaf?“
„Eins!?“ Er stierte seine Tochter an, als hätte sie eine unfassbar dumme Frage gestellt. Derart aufgebracht hatte Belle ihn nie zuvor erlebt.
„Gleich drei Schafe hat dieses Ungeheuer gerissen!“, jaulte er auf, machte dabei eine weit ausholende Geste und fasste sich schließlich an den Kopf. Er schüttelte sich. „Wenn das so weitergeht, können wir bald nicht mehr existieren. Je mehr Schafe uns genommen werden, umso weniger wird uns am Ende zum Leben bleiben. Dieses verdammte ...“
„Vater!“, unterbrach ihn Belle wirsch, „genug der Flüche.“
Sie schenkte ihm einen sanften Blick und brachte ihn damit tatsächlich zur Ruhe — zumindest für den Moment.
„Was können wir tun?“, fragte sie.
Ihr Vater zog eine Grimasse. Er ging einige Schritte durch den Raum, und es hatte den Anschein, als würde er ernsthaft über eine Lösung grübeln. Doch Belle konnte er nichts vormachen. Sie spürte, dass seine Wut längst nicht verflogen war.
„Es gibt nur eine Möglichkeit“, sagte er mit drohendem Unterton. „Ich muss dem ein Ende setzen. Ich muss hinaus in den Wald und das Biest finden.“
„Vater!“, schrie Belle erneut auf. Dieses Mal jedoch voller Entsetzen. „Das kann nicht dein Ernst sein. Du kannst doch nicht alleine auf die Suche gehen. Frag vorher die Männer im Dorf. Sie werden dich ganz sicher unterstützen.“
„Nein, Belle. Ich kann nicht länger darauf warten, dass die Männer aus dem Dorf die Sache in die Hand nehmen. Ich muss jetzt gehen, bevor unsere gesamte Schafherde tot am Boden liegt.“ Mit diesen Worten schnappte er sich sein Gewehr und verschwand ebenso wutschnaubend, wie er vor wenigen Augenblicken aufgetaucht war.
„Ich muss verrückt sein.“ Belle erschrak, wie sehr ihre Stimme zitterte. Sie hatte versucht, die Angst zu unterdrücken. Die Angst und das Grauen davor, alleine durch den dunklen, verlassenen Wald zu gehen.
Aber sie hatte schlichtweg nicht anders handeln können, als ihrem Vater zu folgen. Schon vor Stunden war er zornig aus dem Haus gestürmt. Er wollte es finden und zur Strecke bringen — das Ungeheuer, das seit Tagen ein Schaf nach dem anderen aus seiner Herde riss.
Belle hatte sich zwar eingebildet, durch die Männer im Dorf Hilfe zu erhalten, wurde aber von ihnen allen enttäuscht. Sie fürchteten sich weitaus mehr vor dem Wald als Belle selbst. Niemand wollte sie begleiten, um ihren Vater zu retten. „Warum geht er auch alleine in den Wald? Selbst schuld“, hatte einer ihr geantwortet. Belle ärgerte sich noch immer über die Worte.
Je tiefer sie nun in den Wald geriet, umso mehr war sie davon überzeugt, dass ihr Vater sich dieses Vorhaben nicht recht überlegt hatte. Er war alt und oft kränklich in letzter Zeit. Wie sollte er sich in dem Zustand ganz allein einem Ungeheuer entgegenstellen und es auch noch zur Strecke bringen? Ganz abgesehen davon, dass Belle nie an eine schreckliche Kreatur geglaubt hatte, die im Wald ihr Unwesen trieb. Vermutlich handelte es sich dabei eher um einen Wolf. Die Menschen im Dorf erfanden oft unglaubliche Geschichten, die aus einfachen Tatsachen resultierten.
Da ihr Vater jedoch nicht zurückkehrte, musste ihm etwas zugestoßen sein. Anderenfalls säße er um diese Zeit längst wieder zu Hause vor dem warmen Ofen.
Belle seufzte. Es war kalt und dunkel, und sie fürchtete sich immer mehr. Jeder Schritt, den sie
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