Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
kleinen Pfeil gemalt. Jake drehte das Blatt Papier herum und las:
Übrigens hat Bonnie mich gebeten, Dir das hier mitzuschicken – meinen Glückwunsch!
Glückwunsch? Um Himmels willen, was hatte das zu bedeuten?
Er schlug den blauen Ordner auf. An die erste Seite seines Abschlußaufsatzes war ein Blatt Papier geheftet. BONITA AVERY stand im Briefkopf, und Jake las die eckigen, mit Füller geschriebenen Zeilen mit zunehmendem Erstaunen.
John,
Harvey wird zweifellos der Besorgnis Ausdruck verleihen, die wir alle empfinden – darin ist er ausgezeichnet –, daher möchte ich mich auf Deine Abschlußarbeit beschränken, die ich in meiner Freistunde gelesen und zensiert habe. Sie war verblüffend originell und jedem Abschlußaufsatz überlegen, den ich in den vergangen Jahren gelesen habe. Dein Einsatz bekräftigender Wiederholungen (›… und das ist die Wahrheit‹) ist begnadet, aber selbstverständlich ist bekräftigende Wiederholung nur ein Trick. Der wahre Wert Deiner Arbeit liegt in ihrer symbolistischen Eigenschaft, die zuerst von den Bildern eines Zugs und einer Tür auf dem Deckblatt bekundet und im Text dann vorzüglich fortgesetzt wird. Das erreicht seinen logischen Höhepunkt mit dem Bildnis des ›schwarzen Turms‹, den ich als Deine Aussage nehme, daß herkömmliche Ambitionen nicht nur falsch, sondern gefährlich sind.
Ich will nicht so tun, als verstünde ich die ganze Symbolik (z. B. ›Herrin der Schatten‹, ›Revolvermann‹), aber es scheint deutlich, daß du selbst der ›Gefangene‹ bist (der Schule, der Gesellschaft usw.) und das Bildungssystem der ›sprechende Dämon‹. Ist es möglich, daß sowohl ›Roland‹ wie auch der›Revolvermann‹ ein und dieselbe Autoritätsgestalt sind – möglicherweise Dein Vater? Diese Möglichkeit hat mich so fasziniert, daß ich seinen Namen in Deiner Akte nachgeschlagen habe. Ich habe festgestellt, daß er Elmer heißt, aber mir ist nicht entgangen, daß er die Initiale R im Namen führt. Das fand ich außerordentlich provokativ. Oder ist dieser Name ein doppeltes Symbol, das sich von Deinem Vater ableitet und Robert Brownings Gedicht ›Childe Roland to the Dark Tower Came?‹ Diese Frage würde ich nicht vielen Schülern stellen, aber ich weiß ja, wie groß Dein Lesehunger ist.
Wie dem auch sei, ich bin überaus beeindruckt. Jüngere Schüler sind nicht selten fasziniert von der literarischen Technik des ›inneren Monologs‹, aber meistens außerstande, sie zu meistern. Du hast den IM auf eindrucksvolle Weise mit symbolistischer Sprache verbunden.
Bravo!
Komm vorbei, sobald Du wieder ›gut drauf‹ bist – ich möchte mich über eine mögliche Veröffentlichung des Texts in der ersten Ausgabe der Schülerzeitung im nächsten Jahr unterhalten.
B. Avery
PS: Wenn Du die Schule heute verlassen hast, weil Dir plötzlich Zweifel gekommen sind, ob ich eine Abschlußarbeit von so unerwarteter Reife auch verstehen würde, so hoffe ich, ich habe sie hiermit ausräumen können.
Jake zog das Blatt aus der Büroklammer und legte damit Seite eins seines erstaunlich originellen und reifen, symbolistischen Abschlußaufsatzes frei. Darauf hatte Ms. Avery mit ihrem roten Füller die Note 1+ geschrieben und eingekreist. Darunter hatte sie geschrieben: HERVORRAGENDE ARBEIT!
Jake fing an zu lachen.
Der ganze Tag – der lange, beängstigende, verwirrende, aufregende, schreckliche, geheimnisvolle Tag – ging mit lauten, brüllenden Lachsalven zu Ende. Er sank auf den Stuhl, legte den Kopf zurück und lachte sich heiser. Er hörte fast auf, dann fiel ihm eine Zeile von Ms. Averys wohlmeinender Kritik ins Auge, und er prustete wieder los. Er sah nicht, wie sein Vater zur Tür kam und ihn mit verwirrten, fragenden Augen ansah und dann kopfschüttelnd wieder ging.
Schließlich stellte er fest, daß Mrs. Shaw noch auf dem Bett saß und ihn mit einer Mischung aus freundlicher Unbefangenheit und gelinder Neugier ansah. Er wollte etwas sagen, aber bevor er es konnte, übermannte ihn wieder das Gelächter.
Ich muß aufhören, dachte er. Ich muß aufhören, sonst bringt es mich um. Ich erleide einen Herzanfall oder so etwas…
Dann dachte er: Ich frage mich, was sie in das »Tschuff-tschuff, tschuff-tschuff« hineininterpretiert hat? und fing wieder an, brüllend zu lachen.
Schließlich gingen die Lachsalven in Kichern über. Er strich sich mit dem Arm über die tränenden Augen und sagte: »Tut mir leid, Mrs. Shaw – es ist nur… nun…
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