Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
hatte ebensogroße Angst vor dem Gebäude wie ich.«
»Und das ist alles?« fragte Susannah. »Du träumst einfach, daß du zu diesem Haus gehst. Der Villa?«
»Es ist noch ein bißchen mehr. Jemand kommt… und hängt dann einfach da rum. Ich bemerke ihn in dem Traum, aber nur ein bißchen… wie aus dem Augenwinkel, wißt ihr? Aber ich weiß, wir müssen so tun, als ob wir einander nicht kennen.«
»War dieser Jemand am fraglichen Tag tatsächlich dort?« fragte Roland. Er sah Eddie eindringlich an. »Oder ist er nur ein Spieler in diesem Traum?«
»Es ist schon lange her. Ich kann nicht älter als dreizehn gewesen sein. Wie sollte ich mich mit Sicherheit an so etwas erinnern?«
Roland sagte nichts.
»Okay«, sagte Eddie schließlich. »Ja, ich glaube, er war an jenem Tag dort. Ein Junge, der eine Sporttasche oder einen Rucksack trug, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Und eine Sonnenbrille, die zu groß für sein Gesicht war. Mit Spiegelgläsern.«
»Wer war diese Person?« fragte Roland.
Eddie schwieg lange Zeit. Er hielt die letzte Frikadelle à la Roland in seiner Hand, hatte aber keinen Hunger mehr. »Ich glaube, es ist der Junge, den du im Rasthaus getroffen hast«, sagte er schließlich. »Ich glaube, dein alter Freund Jake hat mich und Henry an dem Nachmittag beobachtet, als wir nach Dutch Hill gegangen sind. Ich glaube, er ist uns gefolgt. Weil er die Stimmen hört, genau wie du, Roland. Und weil er an meinen Träumen Anteil hat und ich an seinen. Ich glaube, woran ich mich erinnere, das passiert gerade jetzt in Jakes Zeit. Der Junge versucht, hierher zurückzukommen. Und wenn der Schlüssel nicht fertig ist, wenn er handelt – oder wenn er fehlerhaft ist –, wird der Junge wahrscheinlich sterben.«
Roland sagte: »Vielleicht hat er einen eigenen Schlüssel. Ist das möglich?«
»Ja, könnte schon sein«, sagte Eddie. »Aber das reicht nicht.« Er seufzte und steckte die letzte Frikadelle für später in die Tasche. »Und ich glaube nicht, daß er das weiß.«
8
Sie gingen weiter; Roland und Eddie wechselten sich an Susannahs Rollstuhl ab. Sie hatten sich für die linke Reifenspur entschieden. Der Rollstuhl schwankte und holperte, und ab und zu mußten sie ihn über Baumstümpfe heben, die hier und da wie verfaulte Zahnstummel aus dem Boden ragten. Dennoch kamen sie schneller voran als in der letzten Woche. Das Gelände stieg an, und wenn Eddie zurücksah, konnte er feststellen, daß der Wald sich in einer Reihe sanfter Stufen neigte. Weit im Nordwesten sah er das Band eines Flusses, der über ein zertrümmertes Felsenantlitz fiel. Das war, stellte er staunend fest, die Stelle, die sie den ›Schießstand‹ genannt hatten. Sie war inzwischen fast im Dunst dieses Sommernachmittags hinter ihnen verschwunden.
»Mach langsam, Junge!« rief Susannah schrill. Eddie drehte sich wieder um und konnte gerade noch rechtzeitig bremsen, sonst wäre der Rollstuhl gegen Roland geprallt. Der Revolvermann war stehengeblieben und spähte ins verfilzte Dickicht.
»Wenn so was noch mal vorkommt, nehm ich dir ‘n Führerschein ab«, sagte Susannah schnippisch.
Eddie achtete nicht auf sie. Er folgte Rolands Blick. »Was ist?«
»Das läßt sich nur auf eine Weise herausfinden.« Er drehte sich um, zog Susannah aus dem Rollstuhl und stemmte sie auf die Hüfte. »Sehen wir es uns alle an.«
»Laß mich runter, großer Junge – ich komme zurecht. Ist einfacher für euch Jungs, wenn ihr’s wirklich wissen wollt.«
Als Roland sie langsam auf den grasbewachsenen Streifen hinunterließ, sah Eddie in den Wald. Das Nachmittagslicht warf überlappende Kreuze aus Schatten, aber er glaubte zu erkennen, was Rolands Aufmerksamkeit erregt hatte. Es handelte sich um einen hohen grauen Stein, der fast vollkommen unter einem Dickicht von Weinreben und Ranken verborgen war.
Susannah schlängelte sich geschmeidig wie ein Aal in den Wald neben dem Weg. Roland und Eddie folgten ihr.
»Das ist ein Wegstein, richtig?« Susannah hatte sich auf die Hände gestützt und betrachtete den rechteckigen Stein. Dieser war ehedem aufrecht gestanden, neigte sich aber nun trunken nach rechts wie ein alter Grabstein.
»Ja. Gib mir mein Messer, Eddie.«
Eddie gab es ihm, dann hockte er sich neben Susannah, während der Revolvermann die Ranken durchschnitt. Als sie abfielen, konnte er Buchstaben sehen, die in den Stein gemeißelt waren, und er kannte die Inschrift, noch ehe Roland auch nur die Hälfte davon freigelegt
Weitere Kostenlose Bücher