Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
und ich dachte mir, Charlie könnte uns sonstwo hinbringen. Hat er nicht zuletzt Leute durch ein Spielzeugdorf gefahren, oder so was, Jake?«
»Einen Freizeitpark.«
»Ja, genauso war es. Am Ende ist ein Bild, wie er Kinder dort spazierenfährt, oder nicht? Sie haben alle gelächelt oder gelacht, aber ich fand stets, sie sehen aus, als würden sie schreien, man solle sie endlich aussteigen lassen.«
»Ja!« rief Jake. »Ja, das ist richtig! Genau richtig!«
»Ich hatte Angst, Charlie könnte uns zu sich bringen – wo auch immer er lebte – statt zur Hochzeit meiner Tante und uns nie mehr nach Hause lassen.«
»Man kann nicht nach Hause zurückkehren«, sagte Eddie nervös und strich sich mit der Hand durchs Haar.
»Die ganze Zeit, während wir mit diesem Zug fuhren, habe ich das Buch nicht losgelassen. Ich kann mich sogar noch erinnern, wie ich gedacht habe: ›Wenn er versucht, uns zu entführen, reiße ich ihm die Seiten aus, bis er aufgibt.‹ Aber selbstverständlich sind wir an unserem Ziel angekommen, und obendrein pünktlich. Daddy hat mich mit nach vorne genommen, damit ich die Lokomotive sehen konnte. Es war eine Diesellok, keine Dampflok, und ich weiß noch, daß mich das gefreut hat. Nach der Hochzeit hat mir dann dieser Mort den Backstein auf den Kopf fallen lassen, und ich lag lange im Koma. Danach habe ich Charlie Tschuff-Tschuff nie wiedergesehen. Bis heute.« Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: »Dies hier könnte mein Exemplar sein – oder das von Eddie.«
»Klar – ist es wahrscheinlich auch«, sagte Eddie. Sein Gesicht war blaß und feierlich… und dann grinste er wie ein kleiner Junge. »›Ist die SCHILDKRÖTE nicht fein? Alles dient dem BALKEN klein.‹«
Roland sah nach Westen. »Die Sonne geht unter. Lies die Geschichte vor, solange wir noch Licht haben, Jake.«
Jake schlug die erste Seite auf, zeigte ihnen das Bild von Lokführer Bob in Charlies Kabine und begann: »Bob Brooks war Lokführer der Eisenbahngesellschaft von Mittwelt auf der Strecke St. Louis-Topeka…«
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»… und ab und zu hören die Kinder, wie Charlie mit seiner leisen, brummigen Stimme sein Lied singt«, las Jake zu Ende. Er zeigte ihnen das letzte Bild – die glücklichen Kinder, die möglicherweise schrien –, dann schlug er das Buch zu. Die Sonne war untergegangen, der Himmel purpurfarben.
»Nun, es paßt nicht vollkommen«, sagte Eddie, »mehr wie in einem Traum, in dem das Wasser manchmal bergauf fließt – aber es paßt so gut, daß ich mich dämlich grusle. Dies ist Mittwelt – Charlies Reich. Nur heißt er hier überhaupt nicht Charlie. Hier heißt er Blaine, der Mono.«
Roland sah Jake an. »Was meinst du?« fragte er. »Sollen wir einen Umweg um die Stadt machen? Uns von diesem Zug fernhalten?«
Jake dachte mit gesenktem Kopf darüber nach und knetete mit den Händen geistesabwesend Oys dichtes, seidiges Fell. »Würde ich gerne«, sagte er schließlich, »aber wenn ich das mit dem Ka richtig verstanden habe, sollten wir es nicht.«
Roland nickte. »Wenn es sich um Ka handelt, stellen sich Fragen danach, was wir tun oder lassen sollen, überhaupt nicht; wenn wir versuchen würden, die Stadt zu umgehen, würden wir feststellen, daß die Umstände uns dorthin zurücktreiben. In solchen Fällen ist es besser, sich ins endgültige Los zu fügen, anstatt es hinauszuschieben. Was meinst du, Eddie?«
Eddie dachte so lange und gründlich darüber nach wie Jake. Er wollte nichts mit einem sprechenden Zug zu tun haben, der von selbst fuhr, ob er nun Charlie Tschuff-Tschuff oder Blaine, der Mono hieß, und was Jake ihnen vorgelesen hatte, deutete in jedem Fall darauf hin, daß es sich um etwas Garstiges handelte. Aber sie mußten eine unvorstellbare Strecke zurücklegen, und irgendwo an deren Ende lag das Ding, das sie suchten. Und nach diesem Gedanken stellte Eddie zu seiner Verblüffung fest, daß er ganz genau wußte, was er dachte und was er wollte. Er hob den Kopf und sah fast zum erstenmal, seit er in diese Welt gekommen war, mit seinen haselnußbraunen Augen fest in Rolands blaßblaue.
»Ich möchte auf diesem Feld der Rosen stehen und den Turm dort stehen sehen. Ich weiß nicht, was als nächstes passiert. Wahrscheinlich trauernde Hinterbliebene mit Kränzen, und zwar für uns alle. Aber das ist mir einerlei. Ich will dort stehen. Ich glaube, es ist mir egal, ob Blaine der Teufel ist und der Zug uns auf dem Weg zum Turm durch die Hölle selbst führt. Ich bin dafür, daß wir
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