Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
angefangen hatte. So war es immer gewesen, und so war es jetzt. Susannah stand wieder dem Bären gegenüber, und ihr Gesicht verriet, daß sie es wußte.
»Was?« fragte er. »Was ist, Susannah?«
»Ich kenne die Antwort, aber ich komm nicht ran. Sie steckt in meinem Kopf, wie eine Fischgräte im Hals steckenbleiben kann. Ich brauche dich, damit ich mich erinnere. Nicht an sein Gesicht, sondern an seine Stimme. An das, was er gesagt hat.«
Jake sah zu seinem Handgelenk und wurde wieder von einer Erinnerung an die katzenartigen grünen Augen des Ticktackmannes überrascht, als er nicht seine Uhr sah, sondern nur die Stelle, wo sie gewesen war – ein weißer Umriß auf seiner braunen Haut. Wieviel Zeit hatten sie noch? Sicher nicht mehr als sieben Minuten, und das war eine großzügige Schätzung. Er sah auf und stellte fest, daß Roland eine Patrone aus dem Gürtel geholt hatte und sie zwischen den Knöcheln der linken Hand wandern ließ. Jake spürte sofort, wie seine Lider schwer wurden, und sah rasch weg.
»An welche Stimme möchtest du dich erinnern, Susannah Dean?« fragte Roland mit leiser, versonnener Stimme. Sein Blick war nicht auf ihr Gesicht gerichtet, sondern auf die Patrone, die ihren endlosen Tanz über seine Knöchel vollführte… und zurück… darüber… und zurück…
Er mußte nicht aufschauen, um zu wissen, daß sich Jake vom Tanz der Patrone abgewandt hatte, Susannah aber nicht. Er beschleunigte den Vorgang, bis die Patrone fast über seinen Handrücken zu schweben schien.
»Hilf mir, mich an die Stimme meines Vaters zu erinnern«, sagte Susannah Dean.
2
Einen Augenblick herrschte Stille, abgesehen vom Klang einer Explosion in der Stadt, dem Regen, der auf das Dach der Krippe prasselte, und dem hallenden Dröhnen der Motoren der Einschienenbahn. Dann schnitt ein tiefes hydraulisches Summen durch die Luft. Eddie sah von der Patrone weg, die über die Finger des Revolvermannes tanzte (was ihn einige Anstrengung kostete; er stellte fest, daß er in wenigen Augenblicken selbst hypnotisiert gewesen wäre) und spähte zwischen den Gitterstäben hindurch. Ein schlanker Silberstab fuhr zwischen Blaines Fenstern aus der gekrümmten rosa Oberfläche aus. Es schien sich um eine Art Antenne zu handeln.
»Susannah?« fragte Roland mit derselben tiefen, leisen Stimme.
»Was?« Sie hatte die Augen offen, aber ihre Stimme klang distanziert und verträumt – die Stimme von jemand, der im Schlaf spricht.
»Erinnerst du dich an die Stimme deines Vaters?«
»Ja… aber ich kann sie nicht hören.«
»SECHS MINUTEN, MEINE FREUNDE.«
Eddie und Jake zuckten zusammen und sahen zum Lautsprecher des Kontrollkästchens, aber Susannah schien es überhaupt nicht gehört zu haben; sie sah nur auf die wandernde Patrone. Rolands Knöchel hoben und senkten sich darunter wie die Einziehhaken eines Webstuhls.
»Versuch es, Susannah«, drängte Roland, und plötzlich spürte er, wie sich Susannah im Griff seines rechten Arms veränderte. Sie schien schwerer zu werden… und auf eine unerklärliche Weise auch vitaler. Es war, als hätte sich ihre Essenz irgendwie verändert.
Und so war es.
»Was willstn von dem Flittchen«, sagte die rauhe Stimme von Detta Walker.
3
Detta hörte sich resigniert und amüsiert zugleich an. »Die hat in ihrem ganzen Leben nix Besseres als ‘ne Drei in Mathe gehabt. Und die hättse nich geschafft, wenn ich ihr nich geholfen hätte.« Nach einer Pause fügte sie verdrießlich hinzu: »Und Daddy. Der hat auch’n bißchen geholfen. Ich hab’ vonnen speziellen Zahlen gewußt, aber er hat uns das Netz gezeigt. Mann, das hat mir vielleicht Spaß gemacht!« Sie kicherte. »Suze kann sich nich anne speziellen Zahlen erinnern, weil Odetta sie überhaupt nich begriffen hat.«
»Was für spezielle Zahlen?« fragte Eddie.
» Prim zahlen!« Sie sprach das Wort Zahlen so aus, daß es sich fast auf holen reimte. Sie sah Roland an und schien wieder hellwach zu sein… aber sie war nicht Susannah, ebensowenig wie sie dasselbe teuflische, verdorbene Flittchen war, das früher auf den Namen Detta Walker gehört hatte, obwohl sie sich so anhörte. »Sie ist zu Daddy gelaufen und hat nich mehr aufgehört zu flennen, weilse’n Mathekurs versaut hat… und dabei war’s nichmal mehr als Anfängeralgebra! Sie hätts machn könn’– wenn ich es konnte, hätt sie’s auch gekonnt –, aber sie wollte nich. Die Freundin der Dichtkunst is sich zu schade gewesn fürn bißchen ars
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