Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
geschwindigkeitsmäßig schon im roten Bereich, die Stoßdämpfer kommen kaum noch nach. Der Zustand der Schiene hat sich seit unserer letzten Fahrt hier entlang deutlich verschlimmert.«
Susannah, die früher genug holprige Züge und schwankende U-Bahnen erlebt hatte, spürte nichts – die Fahrt ging so glatt vonstatten wie schon beim Aufbruch von der Krippe in Lud –, aber sie glaubte dem Kleinen Blaine trotzdem. Sie vermutete, wenn sie ein Holpern spüren würden, dann wäre es wahrscheinlich das Letzte, was sie überhaupt spüren würden.
Roland stieß sie mit dem Ellbogen an und holte sie in die Wirklichkeit zurück.
»Danke-sai«, sagte sie, und dann klopfte sie sich, einem verspäteten Einfall nachgebend, mit den Fingern der rechten Hand dreimal rasch an die Kehle. Das hatte auch Roland getan, als er erstmals das Wort an Tante Talitha gerichtet hatte.
»DANKE FÜR DEINE HÖFLICHKEIT«, sagte Blaine. Er hörte sich wieder amüsiert an, und Susannah dachte, dass das gut war, auch wenn seine Amüsiertheit auf ihre Kosten ging. »ICH BIN ALLERDINGS KEINE FRAU. SOFERN ICH ÜBERHAUPT EIN GESCHLECHT HABE, BIN ICH MÄNNLICH.«
Susannah sah verwirrt zu Roland.
»Linke Hand für Männer«, sagte er. »Auf das Brustbein.« Er klopfte, um es ihr zu zeigen.
»Oh.«
Roland drehte sich zu Jake um. Der Junge stand auf, setzte Oy auf seinen Stuhl (was nichts nützte; Oy sprang sofort wieder auf und folgte Jake, als dieser den Mittelgang zum Streckenplan ging) und wandte seine Aufmerksamkeit Blaine zu.
»Hallo, Blaine, hier ist Jake. Du weißt schon, Sohn des Elmer.«
»STELL DEIN RÄTSEL.«
»Was bewegt sich und kommt nicht fort, hat einen Mund und spricht kein Wort, hat ein Bett und kann doch nicht schlafen, und birgt für manchen einen sicheren Hafen?«
»NICHT SCHLECHT! MAN MÖCHTE HOFFEN, SUSANNAH NIMMT SICH EIN BEISPIEL AN DIR, JAKE, SOHN DES ELMER. DIE ANTWORT MUSS FÜR JEDEN MIT EINEM FÜNKCHEN INTELLIGENZ AUF DER HAND LIEGEN, ABER DENNOCH EIN GUTER VERSUCH. EIN FLUSS.«
»Danke-sai, Blaine, du hast richtig geantwortet.« Er schlug sich mit den Fingern der linken Hand dreimal nacheinander auf das Brustbein, dann setzte er sich. Susannah legte einen Arm um ihn und drückte ihn kurz. Jake sah sie dankbar an.
Nun stand Roland auf. »Heil, Blaine«, sagte er.
»HEIL, REVOLVERMANN.« Wieder hörte sich Blaine amüsiert an… möglicherweise angesichts des Grußes, den Susannah vorher noch nie aus Rolands Mund gehört hatte. Heil was?, fragte sie sich. Hitler fiel ihr ein, und dabei musste sie an das abgestürzte Flugzeug denken, das sie außerhalb von Lud entdeckt hatten. Eine Focke-Wulf, wie Jake behauptet hatte. Über derlei Dinge wusste sie zwar nichts, aber sie wusste eines, dass nämlich ein ernsthaft toter Typ darin saß, der so alt war, dass er nicht mal mehr stank. »STELL MIR DEIN RÄTSEL, ROLAND, UND MACH DEINE SACHE ANSTÄNDIG.«
»Anständig ist, wer anständig handelt, Blaine. Hier ist es jedenfalls: Was hat vier Beine am Morgen, zwei Beine am Mittag und drei Beine am Abend?«
»DAS IST TATSÄCHLICH ANSTÄNDIG«, gab Blaine zu. »EINFACH, ABER ANSTÄNDIG. DIE ANTWORT IST DER MENSCH; DER ALS BABY AUF HÄNDEN UND KNIEN KRABBELT, ALS ERWACHSENER AUF ZWEI BEINEN GEHT UND IM ALTER AUF EINEN STOCK ANGEWIESEN IST.«
Blaine hörte sich wahrhaftig selbstgefällig an, und Susannah fand plötzlich etwas Interessantes heraus: Sie verabscheute dieses selbstgefällige, mörderische Ding. Maschine oder nicht, es oder er, sie hasste Blaine. Sie vermutete, dass es nicht anders wäre, wenn er sie nicht gezwungen hätte, ihr Leben bei einem albernen Rätselwettstreit aufs Spiel zu setzen.
Roland jedoch schien nicht im mindesten beleidigt zu sein. »Danke-sai, Blaine, du hast richtig geantwortet.« Er setzte sich, ohne sich auf das Brustbein zu klopfen, und sah Eddie an. Eddie stand auf und trat in den Mittelgang.
»Was geht ab, Freund Blaine?«, sagte er. Roland zuckte zusammen, schüttelte den Kopf und hob kurz die verstümmelte Hand, um die Augen abzuschirmen.
Blaine schwieg.
»Blaine? Bist du da?«
»JA, ABER NICHT IN DER STIMMUNG FÜR ALBERNHEITEN, EDDIE VON NEW YORK. STELL MIR DEIN RÄTSEL. ICH VERMUTE, ES WIRD TROTZ DEINES DUMMEN GEBARENS SCHWIERIG SEIN. ICH FREUE MICH DARAUF.«
Eddie blickte Roland an, der ihm mit der Hand winkte – Los doch, um deines Vaters willen, los! –, und dann wieder zu der Karte, wo der grüne Punkt gerade den mit der Aufschrift Rilea passiert hatte. Susannah sah, dass
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