Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schüttelten alle den Kopf. Auch Oy, der Jake genau beobachtet hatte, wiegte den Kopf hin und her.
»Nein«, sagte Roland, als hätte er es erwartet. »Aber wir hatten uns ganz auf die Rätsel konzentriert…«
»Wir haben uns darauf konzentriert, nicht getötet zu werden«, grunzte Eddie.
»Ja. Vielleicht sind wir durchgekommen, ohne dass wir es bemerkt haben. So oder so, Schwachstellen kommen nicht natürlich vor – sie sind Schwären auf der Haut der Existenz und können nur existieren, weil irgendetwas schief geht. In allen Welten.«
»Weil beim Dunklen Turm etwas nicht stimmt«, sagte Eddie.
Roland nickte. »Und selbst wenn dieser Ort – dieses Wann und dieses Wo – jetzt nicht das Ka unserer Welt ist, könnte es dieses Ka werden. Diese Seuche – oder andere, noch schlimmere – könnte sich ausbreiten. Genau wie diese Schwachstellen sich ausbreiten und an Größe und Zahl wachsen. In all den Jahren meiner Suche nach dem Turm habe ich vielleicht ein halbes Dutzend davon gesehen, und wohl noch einmal zwei Dutzend gehört. Die erste… die erste habe ich schon gesehen, als ich noch sehr, sehr jung war. In der Nähe einer Stadt namens Hambry.« Er rieb sich wieder mit der Hand die Wange und registrierte ohne Überraschung, dass er Schweiß zwischen den Stoppeln spürte. Schlaf mit mir, Roland. Wenn du mich liebst, dann schlaf mit mir.
»Was auch immer mit uns passiert ist, es hat uns aus unserer Welt hinauskatapultiert, Roland«, sagte Jake. »Wir sind vom Balken heruntergefallen. Schau.« Er deutete zum Himmel. Die Wolken zogen langsam über ihnen dahin, aber nicht mehr in die Richtung, in die Blaines Schnauze zeigte. Südosten war nach wie vor Südosten, aber die Spuren des Balkens, an die sie sich so gewöhnt hatten, waren verschwunden.
»Spielt das eine Rolle?«, fragte Eddie. »Ich meine… der Balken mag verschwunden sein, aber der Turm existiert in allen Welten, oder nicht?«
»Ja«, sagte Roland, »aber möglicherweise ist er nicht von allen Welten aus zugänglich.«
In dem Jahr, bevor Eddie seine wunderbare und erfüllende Karriere als Heroinsüchtiger begonnen hatte, hatte er es kurze Zeit und nicht besonders erfolgreich als Fahrradkurier versucht. Nun erinnerte er sich an bestimmte Fahrstühle von Bürogebäuden, die er benutzt hatte, um Sendungen zuzustellen, überwiegend Gebäude, in denen Banken oder Anlagefirmen residierten. Es gab Etagen, wo man den Fahrstuhl nicht anhalten und aussteigen konnte, es sei denn, man hatte eine spezielle Karte, die man in den Schlitz unter den Zahlen schob. Wenn der Fahrstuhl zu diesen abgesperrten Etagen kam, wurde die Zahl in der Anzeige durch ein X ersetzt.
»Ich glaube«, sagte Roland, »wir müssen den Balken wiederfinden.«
»Davon bin ich überzeugt«, sagte Eddie. »Kommt, machen wir uns auf den Weg.« Er machte zwei Schritte, dann drehte er sich mit hochgezogenen Brauen zu Roland um. »Wohin?«
»Die Richtung, in die wir gefahren sind«, sagte Roland, als wäre das offensichtlich gewesen, ging mit seinen staubigen, rissigen Stiefeln an Eddie vorbei und auf den Park gegenüber zu.
Kapitel 5
H IGHWAYSURFEN
1
Roland ging zum Ende des Bahnsteigs und kickte unterwegs rosa Metallteile aus dem Weg. An der Treppe blieb er stehen und drehte sich mit ernstem Gesicht zu den anderen um. »Noch mehr Tote. Wappnet euch.«
»Die sind doch nicht… äh… glibberig, oder?«, fragte Jake.
Roland runzelte erst die Stirn, aber sein Gesicht hellte sich auf, als er begriff, was Jake meinte. »Nein. Nicht glibberig. Trocken.«
»Dann ist es gut«, sagte Jake, hielt aber Susannah, die momentan von Eddie getragen wurde, die Hand hin. Sie lächelte ihm zu und legte die Finger um seine.
Am Ende der Treppe, die zum Pendlerparkplatz an der Seite der Bahnhofshalle führte, lagen ein halbes Dutzend Leichen zusammen wie eine umgestürzte Korngarbe. Zwei Frauen, drei Männer. Nummer sechs war ein Kind in Strampelhosen. Ein Sommer tot in Sonne und Regen und Hitze (ganz zu schweigen davon, der Barmherzigkeit von streunenden Katzen, Waschbären oder Murmeltieren ausgesetzt zu sein) hatten dem Baby einen Ausdruck von uralter Weisheit und Rätselhaftigkeit verliehen, wie bei einer Kindermumie aus einer Inkapyramide. Jake vermutete anhand der ausgebleichten blauen Kleidung, dass es ein Junge gewesen sein musste, aber mit Sicherheit konnte man es nicht sagen. Ohne Augen und Lippen und mit einer zu staubigem Grau verblassten Haut machte es das Geschlecht zu einem Witz
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