Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
schnaufend hinauf, das weiße Haar stand ihr in schmutzigen Strähnen vom Kopf ab, und unter dem schwarzen Kleid schwankten ihre alten Beutel von einer Seite zur anderen. Die Katze folgte in ihrem Schatten und verströmte weiterhin ihr rostiges Schnurren wie einen Gestank.
Oben auf dem Hügel wehte ihr der Wind das Haar von dem verwüsteten Gesicht weg und trug ihr das stöhnende Flüstern der Schwachstelle zu, die sich ins entgegengesetzte Ende des Eyebolt Canyon gefressen hatte. Sie wusste, dass es ein Geräusch war, das die wenigsten gern hörten, aber sie selbst liebte es; für Rhea vom Cöos hörte es sich an wie ein Schlummerlied. Am Himmel stand der Mond, auf dessen blasser Haut die Schatten die Umrisse der Gesichter eines küssenden Liebespaares zeichneten… das heißt, wenn man den gewöhnlichen Narren da unten glauben wollte. Die gewöhnlichen Narren da unten sahen in jedem Vollmond ein neues Gesicht oder Gesichter, aber die Vettel wusste, dass es nur eines gab – das Gesicht des Dämons. Das Gesicht des Todes.
Sie selbst jedoch hatte sich nie lebendiger gefühlt.
»O meine Schönheit«, flüsterte sie und berührte das Schloss mit ihren gichtigen Fingern. Ein schwacher rötlicher Schimmer war zwischen den gespannten Knöcheln zu sehen, ein Klicken zu hören. Sie atmete schwer, wie eine Frau, die ein Rennen gelaufen war, und machte das Kästchen auf.
Rosafarbenes Licht, schwächer als das des Kussmonds, aber unendlich viel schöner, strahlte daraus hervor. Es fiel auf das verlebte Gesicht über dem Kästchen und verwandelte es einen Moment lang wieder in das Gesicht eines jungen Mädchens.
Musty schnupperte mit vorgestrecktem Kopf, angelegten Ohren und einem rosa Schimmer in den alten Augen. Rhea wurde sofort eifersüchtig.
»Geh weg, närrisches Ding, das ist nichts für deinesgleichen!«
Sie scheuchte die Katze weg. Musty wich zurück, zischte wie ein Kessel und stakste beleidigt zu dem Gipfel, der die höchste Stelle des Cöos bildete. Dort blieb er sitzen, verströmte Missfallen und leckte sich eine Pfote, während der Wind ihm unablässig durch das Fell kämmte.
In dem Kästchen lag eine Glaskugel. Aus ihr erstrahlte das rosa Licht; es pulsierte leicht wie mit dem Schlagen eines zufriedenen Herzens.
»O meine Schönheit«, murmelte sie und nahm die Kugel heraus. Sie hielt sie vor sich; ließ das pulsierende Leuchten auf ihr Gesicht fallen wie Regen. »Oh, du lebst, das tust du!«
Plötzlich wandelte sich die Farbe in der Kugel zu einem dunklen Scharlachrot. Rhea spürte eine Vibration in den Händen, wie von einem unvorstellbar starken Motor erzeugt, und erneut spürte sie diese erstaunliche Nässe zwischen den Beinen, dieses Ziehen der Gezeiten, das sie schon längst hinter sich gewähnt hatte.
Dann hörte die Vibration auf, und das Licht in der Kugel schien sich wie Blütenblätter zu entfalten. An seine Stelle trat ein rosafarbener Schimmer… aus dem drei Reiter herauskamen. Zuerst dachte sie, es wären die Männer, die ihr die Glaskugel gebracht hatten – Jonas und die anderen. Aber nein, diese waren jünger, sogar jünger als Depape, der etwa fünfundzwanzig war. Der auf der linken Seite des Trios schien einen Vogelschädel am Knauf seines Sattels befestigt zu haben – seltsam, aber wahr.
Dann verschwanden er und der auf der rechten Seite, als die Macht der Glaskugel sie irgendwie ausblendete, und nur derjenige in der Mitte blieb zurück. Sie bemerkte die Jeans und Stiefel, die er trug, den flachen Hut, der seine obere Gesichtshälfte verbarg, die Anmut, mit der er auf dem Pferd saß, und ihr erster alarmierender Gedanke war: Revolvermann! Aus dem Osten, von den Inneren Baronien, aye, vielleicht aus Gilead selbst! Aber sie musste die obere Gesichtshälfte des Reiters nicht sehen, um zu erkennen, dass er wenig mehr als ein Kind war und keine Waffen an den Hüften trug. Und doch glaubte sie nicht, dass der Junge unbewaffnet kam. Wenn sie nur ein wenig besser sehen könnte…
Sie hielt die Glaskugel fast an ihre Nasenspitze und flüsterte: »Näher, Liebchen! Noch näher!«
Sie wusste nicht, was sie zu erwarten hatte – höchstwahrscheinlich gar nichts –, aber die Gestalt in dem dunklen Glasrund kam tatsächlich näher. Schwamm fast näher, wie ein Pferd mit Reiter unter Wasser, und sie sah einen Köcher mit Pfeilen auf seinem Rücken. Vor ihm, am Knauf seines Sattels, hing kein Vogelschädel, sondern ein Kurzbogen. Und auf der rechten Seite des Sattels, wo ein Revolvermann
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