Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
zwischen Katze und Spinne aussah.
Die alte Frau stand auf und ging in ihre Schlafkammer, wo sie das Ding aufbewahrte, das Jonas ihr gegeben hatte.
»Wenn du das verlierst, verlierst du deinen Kopf«, hatte er gesagt.
»Hab keine Angst, mein guter Freund«, hatte sie geantwortet und ein schiefes, unterwürfiges Lächeln über die Schulter erstrahlen lassen, während sie die ganze Zeit dachte: Männer! Was für alberne Wichtigtuer sie doch waren!
Nun ging sie zum Fußende des Betts, kniete nieder und strich mit einer Hand über den Erdboden dort. Als sie das tat, erschienen Linien in der sauren Erde. Sie bildeten ein Rechteck. In eine dieser Linien schob sie die Finger; die Linie gab unter der Berührung nach. Sie hob die verborgene Klappe hoch (auf solche Weise verborgen, dass niemand ohne die Gabe sie jemals würde öffnen können) und legte ein Fach frei, das etwa eine Elle im Quadrat maß und zwei Ellen tief war. Darin befand sich ein Hartholzkästchen. Auf diesem Kästchen hatte sich eine schmale grüne Schlange zusammengerollt. Als sie den Rücken der Schlange berührte, hob das Tier den Kopf. Es öffnete das Maul zu einem lautlosen Zischen und entblößte vier Paar Fangzähne – zwei oben, zwei unten.
Sie hob die Schlange hoch und redete zärtlich auf sie ein. Als sie den flachen Kopf dicht an ihr Gesicht hielt, klaffte der Mund noch weiter auf, und das Zischen wurde lauter. Sie machte selbst den Mund auf; zwischen den runzligen grauen Lippen schob sie die gelbliche, übel riechende Matte ihrer Zunge hervor. Zwei Tropfen Gift – die im Punsch ausgereicht hätten, um eine ganze Abendgesellschaft zu vergiften – fielen darauf. Sie schluckte und spürte, wie ihr Mund, ihr Hals und ihre Brust brannten, als hätte sie starken Alkohol getrunken. Einen Augenblick lang verschwamm das Zimmer vor ihren Augen, und sie konnte Stimmen in der stinkenden Luft der Hütte hören – die Stimmen derer, die sie »die unsichtbaren Freunde« nannte. Aus ihren Augen lief klebriges Wasser die Furchen hinab, welche die Zeit in ihre Wangen gegraben hatte. Dann stieß sie den Atem aus, und das Zimmer wurde wieder klar. Die Stimmen verklangen.
Sie küsste Ermot zwischen seine lidlosen Augen (die Zeit des Kussmonds, wahrhaftig, dachte sie), dann legte sie ihn beiseite. Die Schlange glitt unter das Bett, ringelte sich dort zusammen und sah ihr zu, wie sie mit den Handflächen über die Oberseite des Hartholzkästchens strich. Sie konnte die Muskeln ihrer Oberarme beben spüren, und die Hitze in ihrem Unterleib wurde deutlicher. Es war Jahre her, seit sie zum letzten Mal den Ruf ihres Geschlechts vernommen hatte, aber nun spürte sie ihn, das tat sie, und es lag nicht am Wirken des Kussmonds, jedenfalls nicht sehr.
Das Kästchen war verschlossen, und Jonas hatte ihr keinen Schlüssel gegeben, aber das war kein Hindernis für sie, hatte sie doch lang genug gelebt und viel gelernt und mit Kreaturen verkehrt, vor denen die meisten Männer trotz allem hochtrabendem Geschwätz und großspurigem Gebaren davongerannt wären, als stünden sie in Flammen, wenn sie auch nur einen Blick darauf erhascht hätten. Sie streckte eine Hand zu dem Schloss, in welches der Umriss eines Auges eingraviert war sowie ein Spruch in der Hohen Sprache (ich sehe, wer mich öffnet), dann zog sie die Hand wieder weg. Plötzlich konnte sie riechen, was ihre Nase unter normalen Umständen nicht mehr wahrnahm: Schmutz und Staub und eine verdreckte Matratze und die Krümel von Essen, das im Bett gegessen worden war; die Gerüche von Asche und uraltem Weihrauch; den Geruch einer alten Frau mit feuchten Triefaugen und einer (jedenfalls für gewöhnlich) trockenen Muschi. Sie würde das Kästchen nicht hier drinnen öffnen, um das Wunder zu bestaunen, das es enthielt; sie würde nach draußen gehen, wo die Luft klar und rein war und nur nach Salbei und Mesquite duftete.
Sie würde es sich im Licht des Kussmonds ansehen.
Rhea vom Berge Cöos zog das Kästchen grunzend aus dem Erdloch, erhob sich mit einem weiteren Grunzen (diesmal von weiter unten) auf die Füße, klemmte sich das Kästchen unter den Arm und verließ das Zimmer.
2
Die Hütte lag so weit unterhalb der Hügelkuppe, dass die bittersten winterlichen Windböen abgehalten wurden, die in diesem Hochland fast unablässig von Ernte bis zum Ende von Weiter Erde wehten. Ein Pfad führte zum höchsten Punkt des Hügels; unter dem Vollmond war er ein Graben voller Silber. Die alte Frau watschelte
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