Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
mich dort zum ersten Mal. So wie auch ich Euch sehen werde.«
Er nickte, und nun bemerkte sie den eigenen Ernst als Spiegelung in seinem Gesicht. Und vielleicht auch die Traurigkeit. »Ich habe noch nie ein Mädchen gebeten, mit mir auszureiten, oder gefragt, ob sie einen Besuch von mir wohlheißen würde. Euch würde ich fragen, Susan, Tochter des Patrick – ich würde Euch sogar Blumen bringen, um meine Erfolgsaussichten zu verbessern –, aber ich fürchte, es würde nichts nützen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nay. Würde es nicht.«
»Habt Ihr ein Eheversprechen gegeben? Ich weiß, es ist dreist von mir, das zu fragen, doch führe ich nichts Böses im Schilde.«
»Dessen bin ich gewiss, aber ich ziehe es vor, nicht zu antworten. Meine Stellung ist derzeit etwas delikat, wie ich Euch schon sagte. Außerdem ist es spät. Hier werden sich unsere Wege trennen, Will. Aber bleibt… noch einen Augenblick…«
Sie suchte in der Tasche ihrer Schürze und holte ein halbes Stück Kuchen heraus, das in ein grünes Blatt gewickelt war. Die andere Hälfte hatte sie auf dem Weg den Cöos hinauf gegessen… in der anderen Hälfte ihres Lebens, wie es ihr jetzt vorkam. Sie hielt den Rest ihres kleinen Abendessens Rusher hin, der daran schnupperte, es aß und ihr dann die Hand leckte. Sie lächelte, weil ihr das samtige Kitzeln auf der Handfläche gefiel. »Aye, bist ein gutes Pferd, das bist du.«
Sie sah Will Dearborn an, der auf der Straße stand, mit seinen staubigen Stiefeln scharrte und sie unglücklich ansah. Der harte Ausdruck war aus seinem Gesicht gewichen; er sah wieder aus, als wäre er in ihrem Alter oder gar jünger. »Es war eine gute Begegnung, oder nicht?«, sagte er.
Sie trat nach vorn, und ehe sie darüber nachdenken konnte, was sie tat, stellte sie sich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen Kuss auf den Mund. Der Kuss war kurz, aber alles andere als schwesterlich.
»Aye, eine sehr gute Begegnung, Will.« Aber als er sich auf sie zubewegte (so unbewusst wie eine Blume, die ihr Gesicht der Sonne zudrehte), um das eben Erlebte zu wiederholen, stieß sie ihn sanft, aber bestimmt einen Schritt zurück.
»Nay, das war nur ein Dankeschön, und ein Dankeschön sollte einem Gentleman genügen. Gehe hin in Frieden, Will.«
Er nahm die Zügel wie ein Mann in einem Traum, sah sie einen Moment lang an, als wüsste er nicht um alles in der Welt, was das sein könnte, was er da in der Hand hielt, und richtete seinen Blick wieder auf Susan. Sie konnte sehen, wie er sich anstrengte, um sein Denken und seine Gefühle von dem Eindruck zu klären, den der Kuss auf ihn gemacht hatte. Dafür mochte sie ihn. Und sie war sehr froh, dass sie es getan hatte.
»Und du ebenso«, sagte er und schwang sich in den Sattel. »Ich freue mich darauf, dir zum ersten Mal zu begegnen.«
Er lächelte ihr zu, und sie sah Sehnsucht und Wünsche in diesem Lächeln. Dann gab er dem Pferd ein Zeichen, dirigierte es herum und ritt in die Richtung zurück, aus der sie gekommen waren – vielleicht, um sich das Ölfeld noch einmal anzusehen. Sie blieb stehen, wo sie stand, bei Mrs. Beechs Briefkasten, und wünschte sich, er würde sich umdrehen und winken, damit sie sein Gesicht noch einmal sehen konnte… aber er drehte sich nicht um. Als sie sich jedoch gerade abwenden und den Hügel hinab in die Stadt gehen wollte, drehte er sich doch noch einmal um und hob die Hand, die in der Dunkelheit kurz wie ein Falter flatterte.
Susan hob die ihre ebenfalls und ging dann ihres Wegs, glücklich und unglücklich zur selben Zeit. Aber – und das war vielleicht das Entscheidende – sie fühlte sich nicht mehr beschmutzt. Als sie die Lippen des Jungen berührt hatte, schien Rheas Berührung von ihr abgefallen zu sein. Möglicherweise ein unbedeutender Zauber, aber höchst willkommen.
Sie ging weiter, lächelte verhalten und sah häufiger zu den Sternen auf, als es ihrer Gewohnheit entsprach, wenn sie nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs war.
Kapitel 4
L ANGE NACH M ONDUNTERGANG
1
Er ritt fast zwei Stunden lang rastlos an der so genannten Schräge entlang und drängte Rusher zu keiner schnelleren Gangart als dem Trab, obwohl er mit dem großen Wallach lieber unter den Sternen dahingaloppiert wäre, bis sich sein Blut etwas abgekühlt hätte.
Es wird ordentlich abkühlen, wenn du die Aufmerksamkeit auf dich lenkst, dachte er, und wahrscheinlich wirst du es nicht einmal selbst abkühlen müssen. Narren sind die einzigen Menschen auf der
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