Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
des Mannes zu zweifeln. Aber Fran Lengyll hatte Wills Freunden auch erzählt, dass es nur vierhundert Reitpferde in Mejis gab, und das war eine faustdicke Lüge.
Will drehte sich zu seinem Pferd um, und sie war froh darüber.
Ein Teil von ihr wollte, dass er blieb – dass er dicht neben ihr stand, während die langen Schatten der Wolken über das Grasland zogen –, aber sie waren schon zu lange hier draußen zusammen. Es gab keinen Grund, anzunehmen, jemand könnte vorbeikommen und sie sehen, aber aus einem unerfindlichen Grund machte sie dieser Gedanke unruhiger denn je.
Er rückte den Steigbügel zurecht, der neben der Scheide mit dem Schaft seiner Lanze hing (Rusher wieherte leise tief im Hals, so als wollte er sagen: Wurde auch Zeit, dass wir weiterziehen), dann drehte er sich wieder zu ihr um. Sie bekam fast einen Schwächeanfall, als er sie ansah, und jetzt war der Gedanke an Ka so übermächtig, dass er sich kaum mehr leugnen ließ. Sie wollte sich einreden, dass es sich lediglich um die Ahnung handelte – das Gefühl, etwas schon einmal erlebt zu haben –, aber es war nicht die Ahnung; es war das Gefühl, als hätte man die Straße gefunden, die man die ganze Zeit gesucht hatte.
»Ich möchte noch etwas sagen. Ich kehre nicht gern an den Anfang unseres Gesprächs zurück, aber es muss sein.«
»Nein«, sagte sie kläglich. »Das ist gewiss erledigt.«
»Ich habe dir gesagt, dass ich dich liebe und eifersüchtig war«, sagte er, und seine Stimme geriet zum ersten Mal ein klein wenig aus den Fugen und zitterte in der Kehle. Sie sah zu ihrem Schrecken, dass ihm Tränen in den Augen standen. »Da ist mehr. Noch etwas.«
»Will, ich mag es nicht…« Sie wandte sich blind zu ihrem Pferd um. Er hielt sie an der Schulter fest und drehte sie wieder um. Es war keine grobe Berührung, aber sie hatte etwas Unentrinnbares an sich, das grässlich war. Sie schaute ihm hilflos ins Gesicht, stellte fest, dass er jung und fern seiner Heimat war, und wusste plötzlich, dass sie ihm nicht lange würde widerstehen können. Sie wollte ihn so sehr, dass es ihr Schmerzen bereitete. Sie hätte ein Jahr ihres Lebens gegeben, nur um die Handflächen auf seine Wangen zu legen und seine Haut zu spüren.
»Vermisst du deinen Vater, Susan?«
»Aye«, flüsterte sie. »Von ganzem Herzen.«
»Ich vermisse meine Mutter auf dieselbe Weise.« Er hielt sie jetzt an beiden Schultern. Ein Auge lief über; die Träne zog eine silberne Spur über seine Wange.
»Ist sie tot?«
»Nein, aber etwas ist geschehen. Mit ihr. Scheiße! Wie kann ich darüber reden, wenn ich nicht mal weiß, wie ich daran denken soll? In gewisser Weise ist sie gestorben. Für mich.«
»Will, das ist schrecklich.«
Er nickte. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie mich in einer Weise angeschaut, die mich bis ins Grab verfolgen wird. Scham und Liebe und Hoffnung, alles ineinander verschlungen. Scham über das, was ich gesehen hatte und von ihr wusste, Hoffnung, vielleicht, dass ich es verstehen und ihr vergeben könnte…« Er holte tief Luft. »In der Nacht des Empfangsessens, gegen Ende der Mahlzeit, hat Rimer etwas Komisches gesagt. Ihr habt alle gelacht…«
» Wenn ich gelacht habe, dann nur deshalb, weil es merkwürdig ausgesehen hätte, wenn ich als Einzige nicht gelacht hätte«, sagte Susan. »Ich mag ihn nicht. Ich halte ihn für einen Ränkeschmied und Rosstäuscher.«
»Ihr habt alle gelacht, und ich habe zufällig zum Ende der Tafel gesehen. Zu Olive Thorin. Und einen Augenblick lang – nur einen Augenblick – dachte ich, sie wäre meine Mutter. Der Gesichtsausdruck war irgendwie derselbe. Derselbe, den ich an jenem Morgen gesehen habe, als ich zum falschen Zeitpunkt die falsche Tür aufgemacht und meine Mutter erwischt habe, zusammen mit ihrem…«
»Hör auf!«, schrie sie und entzog sich seinen Händen. Plötzlich war alles in ihr in Bewegung geraten, alle Taue und Klammern und Schnallen, mit denen sie sich selbst zusammengehalten hatte, schienen gleichzeitig zu schmelzen. »Hör auf, hör doch auf, ich kann nicht mit anhören, wie du über sie sprichst!«
Sie streckte die Hände nach Pylon aus, aber jetzt bestand die ganze Welt für sie nur aus feuchten Prismen. Sie fing an zu schluchzen. Sie spürte seine Hände auf ihren Schultern, als er sie wieder umdrehte, und wieder leistete sie keinen Widerstand.
»Ich schäme mich so«, sagte sie. »Ich schäme mich so, ich habe Angst, und es tut mir Leid. Ich habe das Angesicht
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