Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
meines Vaters vergessen, und… und…«
Und ich werde es nie wiederfinden können, wollte sie sagen, aber sie musste gar nichts sagen. Er verschloss ihr den Mund mit seinen Küssen. Zuerst ließ sie sich einfach nur küssen… und dann erwiderte sie die Küsse, erwiderte sie fast ungestüm. Sie wischte mit sanften Daumenbewegungen die Nässe unter seinen Augen weg, dann strich sie mit den Handflächen über seine Wangen, wie sie es sich zuvor so gewünscht hatte. Das Gefühl war überwältigend; selbst das sanfte Kratzen der Stoppeln dicht über der Haut war überwältigend. Sie schlang die Arme um seinen Hals, presste den offenen Mund auf seinen, hielt ihn fest und küsste ihn so heftig, wie sie konnte, küsste ihn zwischen den beiden Pferden, die einander einfach nur ansahen und dann weitergrasten.
9
Es waren die besten Küsse seines ganzen Lebens, und er vergaß sie nie: die nachgiebige Festigkeit ihrer Lippen und die festen Zähne darunter, drängend und nicht im Geringsten schüchtern; ihr duftender Atem, die sanften Rundungen ihres Leibes, den sie an ihn presste. Er glitt mit einer Hand zu ihrer linken Brust, drückte sie behutsam und spürte, wie ihr Herz darunter rasend schlug. Mit der anderen Hand strich er über ihr Haar, Seide an ihrer Schläfe. Er vergaß nie, wie es sich anfühlte.
Dann stand sie ein Stück von ihm entfernt, ihr Gesicht flammend vor Röte und Leidenschaft, und strich mit einer Hand über ihre Lippen, die er geküsst hatte, bis sie geschwollen waren. Eine hauchdünne Blutspur lief aus dem Winkel der unteren. Sie sah ihn mit aufgerissenen Augen an. Ihr Busen hob und senkte sich, als hätte sie gerade einen Wettlauf hinter sich gebracht. Und zwischen ihnen floss eine Strömung, wie er sie noch niemals in seinem Leben verspürt hatte. Sie war reißend wie ein Fluss und verzehrend wie ein Fieber.
»Nicht mehr«, sagte sie mit bebender Stimme. »Nicht mehr, bitte. Wenn du mich wirklich liebst, lass nicht zu, dass ich mich entehre. Ich habe ein Versprechen gegeben. Später, wenn dieses Versprechen erfüllt ist, kann meinetwegen alles Mögliche geschehen… wenn du mich dann noch willst…«
»Ich würde immer auf dich warten«, sagte er ruhig, »und alles für dich tun, nur nicht dabeistehen und zusehen, wie du zu einem anderen Mann gehst.«
»Dann geh fort von mir, wenn du mich liebst. Bitte, Will!«
»Noch einen Kuss.«
Sie kam sofort näher, streckte ihm voller Vertrauen das Gesicht entgegen, und er begriff, dass er alles mit ihr tun konnte. Sie war, zumindest im Augenblick, nicht mehr Herrin ihrer selbst; er konnte sie haben. Er konnte mit ihr tun, was Marten mit seiner Mutter getan hatte, wenn das sein Wunsch war.
Dieser Gedanke zerbrach seine Leidenschaft und verwandelte sie in Schlacke, die als strahlender Regen herabfiel und nach und nach in einer dunklen Bestürzung erlosch. Dass sein Vater es akzeptiert hatte
(Ich weiß es seit zwei Jahren)
war in vieler Hinsicht der schlimmste Teil von allem, was Roland in diesem Jahr widerfahren war; wie konnte er sich in dieses – oder ein anderes – Mädchen verlieben, in einer Welt, wo ein derartiges Elend des Herzens notwendig war und sich möglicherweise sogar wiederholte?
Und doch liebte er sie.
Statt des leidenschaftlichen Kusses, den er wollte, presste er die Lippen behutsam auf den Mundwinkel, wo das hauchfeine Rinnsal Blut floss. Er küsste sie und schmeckte Salz wie den Geschmack eigener Tränen. Er machte die Augen zu und erschauerte, als sie mit der Hand das Haar in seinem Nacken streichelte.
»Ich würde Olive Thorin nicht um alles in der Welt wehtun«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ebenso wenig wie ihm, Will. Ich habe es nicht verstanden, und nun ist es zu spät, um alles in Ordnung zu bringen. Aber ich danke dir dafür, dass du dir nicht… nicht genommen hast, was du hättest haben können. Und ich werde dich nie vergessen. Wie es war, von dir geküsst zu werden. Es ist das Beste, was mir je widerfahren ist, glaube ich. Als würden Himmel und Erde eins werden, aye.«
»Ich werde es auch nicht vergessen.« Er sah ihr zu, wie sie sich in den Sattel schwang, und erinnerte sich an ihre bloßen Beine in der Dunkelheit jener Nacht, als er sie kennen gelernt hatte. Und plötzlich konnte er sie nicht gehen lassen. Er streckte die Hand aus, berührte sie am Stiefel.
»Susan…«
»Nein«, sagte sie. »Bitte.«
Er wich zurück. Irgendwie.
»Dies ist unser Geheimnis«, sagte sie. »Ja?«
»Aye.«
Darüber
Weitere Kostenlose Bücher