Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
Stolz einer Frau. Meine Tante hat mir das sicherlich oft genug gesagt. Aber, Roland, warum? Warum habe ich das getan?«
Roland hatte eine Ahnung. Wenn Haar der Stolz einer Frau war, dann ging das Abschneiden der Haare wahrscheinlich auf die Gemeinheit einer Frau zurück – ein Mann würde an so etwas kaum denken. Die Frau des Bürgermeisters, war sie es gewesen? Er glaubte es nicht. Ihm erschien es wahrscheinlicher, dass Rhea, da oben auf ihrem Berg, der in Richtung Norden das Böse Gras, den Hanging Rock und den Eyebolt Canyon überblickte, diese hässliche Falle gestellt hatte. Bürgermeister Thorin hatte wohl am Morgen nach der Ernte mit einem Kater und einem kahlköpfigen Feinsliebchen aufwachen sollen.
»Susan, kann ich etwas ausprobieren?«
Sie lächelte ihn an. »Etwas, was du da oben noch nicht ausprobiert hast? Aye, was du willst.«
»Nichts dergleichen.« Er öffnete die Hand, die zur Faust geballt gewesen war, und zeigte ihr die Patrone. »Ich möchte herausfinden, wer dir das angetan hat und warum.« Und noch viel mehr. Er wusste nur noch nicht, was.
Sie betrachtete die Patrone. Roland bewegte sie über den Handrücken, ließ sie mit einer webartigen, geschmeidigen Bewegung hin und her tanzen. Die Fingerknöchel hoben und senkten sich wie die Schiffchen eines Webstuhls. Sie betrachtete es mit der faszinierten Verzückung eines Kindes. »Wo hast du das gelernt?«
»Zu Hause. Ist nicht wichtig.«
»Du hypnotisierst mich?«
»Aye… und ich glaube, es ist nicht das erste Mal.« Er ließ die Patrone nun etwas schneller tanzen – mal nach Osten auf den wogenden Knöcheln, mal nach Westen. »Darf ich?«
»Aye«, sagte sie. »Wenn du’s schaffst.«
12
Er schaffte es durchaus; die Schnelligkeit, mit der sie in Hypnose fiel, bestätigte, dass es Susan schon einmal passiert sein musste, und zwar erst vor kurzem. Aber er bekam aus ihr nicht das heraus, was er wissen wollte. Sie war vollkommen hilfsbereit (manche schlafen eifrig, hätte Cort gesagt), aber weiter als bis zu einem bestimmten Punkt wollte sie nicht gehen. Das war auch kein Getue oder Schamhaftigkeit – als sie da so mit offenen Augen am Ufer des Bachs schlief, erzählte sie ihm mit einer entrückten, aber ruhigen Stimme von der Untersuchung durch die alte Frau und wie Rhea versucht hatte, sie »hochzukitzeln«. (Dabei ballte Roland die Fäuste so sehr, dass ihm die Nägel in die Handflächen schnitten.) Aber es kam der Punkt, an dem sie sich einfach nicht mehr erinnern konnte.
Sie und Rhea seien zur Tür der Hütte gegangen, sagte Susan, und da hätten sie gestanden, während der Kussmond auf ihre Gesichter herunterschien. Die alte Frau habe ihr Haar berührt, daran erinnere sie sich noch. Die Berührung durch die Hexe habe sie angeekelt, besonders nach den vorausgegangenen Berührungen, aber sie habe einfach nichts dagegen unternehmen können. Arme zu schwer, um sie zu heben; Zunge zu schwer, um zu sprechen. Sie konnte nur dastehen, während ihr die Hexe ins Ohr flüsterte.
»Was?«, fragte Roland. »Was hat sie geflüstert?«
»Ich weiß nicht«, sagte Susan. »Der Rest ist rosa.«
»Rosa? Was meinst du damit?«
»Rosa«, wiederholte sie. Sie hörte sich fast amüsiert an, so als würde sie glauben, dass Roland sich absichtlich dumm stellte. »Sie sagt: ›Aye, prima, genau so, bist ein braves Mädchen‹, und dann wird alles rosa. Rosa und hell.«
»Hell.«
»Aye, wie der Mond. Und dann…« Eine Pause. »Dann wird es, glaube ich, zum Mond. Dem Kussmond vielleicht. Einem leuchtend rosa Kussmond, so rund und voll wie eine Pampelmuse.«
Er suchte erfolglos nach anderen Wegen, in ihre Erinnerung vorzustoßen – jeder Pfad, mit dem er es versuchte, hörte an dem hellen rosa Licht auf, das zuerst ihre Erinnerungen überstrahlte und dann zum Vollmond wurde. Das sagte Roland nichts; er hatte von blauen Monden gehört, aber noch nie von rosaroten. Er wusste nur eines mit Sicherheit, nämlich dass die alte Frau ihr einen eindringlichen Befehl gegeben hatte, alles zu vergessen.
Er überlegte sich, ob er sie noch tiefer führen sollte – sie wäre ihm auf jeden Fall gefolgt –, wagte es aber nicht. Seine Erfahrungen rührten überwiegend daher, dass er seine Freunde hypnotisiert hatte – Übungen im Unterricht, die lustig und manchmal auch gruselig gewesen waren. Außerdem waren stets Cort oder Vannay dabei gewesen, um alles in Ordnung zu bringen, falls etwas schief ging. Hier waren aber keine Lehrmeister anwesend, die
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