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Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Der dunkle Turm - Gesamtausgabe

Titel: Der dunkle Turm - Gesamtausgabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Tiefschlafs und kämpfte sich ins Wachsein zurück wie ein Taucher, der zur Oberfläche eines Sees emporstieg. Anfangs fiel es ihm schwer, aber es ging zusehends leichter; als er sich dem Wachsein fast genähert hatte, wuchs seine Unruhe.
    Er schlug die Augen auf und sah nach links. Susan war nicht mehr da. Er richtete sich auf, sah nach rechts und erblickte auch oberhalb der Uferböschung des Bachs nichts… und doch spürte er, dass sie sich in dieser Richtung befand.
    »Susan?«
    Keine Antwort. Er stand auf, sah auf seine Hose hinab, und da sagte Cort – ein Besucher, mit dem er an diesem romantischen Ort nie und nimmer gerechnet hätte – mit seiner bärbeißigen Stimme in Rolands Kopf: Keine Zeit, du Wurm.
    Er ging nackt zum Ufer und sah nach unten. Da war Susan tatsächlich, ebenfalls nackt, und hatte ihm den Rücken zugekehrt. Sie hatte das Haar geöffnet. Es hing wie Goldfäden fast bis zu ihrem lyrahaft geschwungenen Becken hinab. In der kalten Luft, die von der Oberfläche des Bachs aufstieg, erbebten die Haarspitzen wie Nebel.
    Sie hatte sich am fließenden Wasser auf ein Knie niedergelassen. Einen Arm hatte sie fast bis zum Ellbogen hineingesteckt; es schien, als suchte sie nach etwas.
    »Susan!«
    Keine Antwort. Und jetzt erfüllte ihn ein kalter Gedanke: Sie ist von einem Dämon besessen. Während ich sorglos neben ihr geschlafen habe, hat ein Dämon von ihr Besitz ergriffen. Aber ihm war dennoch nicht, als ob er das wirklich glaubte. Wenn sich ein Dämon in der Nähe dieser Lichtung aufgehalten hätte, dann hätte er es bemerkt. Wahrscheinlich hätten sie es beide gespürt; und die Pferde auch. Aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
    Sie nahm einen Gegenstand aus dem Bachbett und hielt ihn sich mit einer tropfenden Hand vor die Augen. Ein Stein. Sie begutachtete ihn und warf ihn dann zurück – platsch. Sie streckte die Hand mit gebeugtem Kopf wieder ins Wasser, und nun schwammen zwei ihrer Haarsträhnen tatsächlich darin, und der Bach zog sie spielerisch in die Richtung, in die er floss.
    »Susan!«
    Keine Antwort. Sie nahm einen weiteren Stein aus dem Bachbett, ein dreieckiges Stück weißen Quarzes, das abgesplittert war und fast die Form einer Speerspitze besaß. Susan neigte den Kopf nach links und nahm eine Haarsträhne in die Hand, wie eine Frau, die eine verfilzte Stelle auskämmen möchte. Aber sie hatte keinen Kamm, nur den scharfkantigen Stein, und Roland blieb noch einen Moment starr vor Entsetzen oben an der Böschung stehen, überzeugt davon, dass sie sich vor Scham oder aus einem Schuldgefühl heraus angesichts dessen, was sie getan hatten, die Kehle aufschneiden wollte. In den kommenden Wochen quälte ihn immer wieder ein einziges Bild, klar und deutlich: Wenn sie sich wirklich die Kehle hätte aufschneiden wollen, wäre er nicht mehr rechtzeitig bei ihr gewesen, um sie aufhalten zu können.
    Dann überwand er seine Lähmung und rannte die Böschung hinunter, ohne auf die spitzen Steine zu achten, die ihm die Sohlen aufrissen. Ehe er sie erreichen konnte, hatte sie sich mit dem Stück Quarz schon ein Stück der goldenen Strähne abgeschnitten, die sie in der Hand hielt.
    Roland packte sie am Handgelenk und riss es zurück. Jetzt konnte er ihr Gesicht deutlich sehen. Was er von oben, am Ufer, für Verklärung gehalten haben mochte, entpuppte sich nun als das, was es wirklich war: Leere, Ausdruckslosigkeit.
    Als er sie festhielt, verdrängte ein düsteres und ärgerliches Lächeln ihre leere Miene; ihr Mund bebte, als würde sie leichte Schmerzen verspüren, und ein fast unartikulierter Laut der Verneinung kam aus ihrem Mund: »Nnnnnnnnn…«
    Etwas von dem Haar, das sie sich abgeschnitten hatte, lag wie ein Stück goldener Draht auf ihrem Schenkel; das meiste war in den Bach gefallen und fortgetragen worden. Susan zog an Rolands Hand, wollte den scharfkantigen Stein wieder zu ihrem Haar führen, wollte den verrückten Haarschnitt fortsetzen. Die beiden rangen miteinander wie Kontrahenten beim Armdrücken an einem Bartresen. Und Susan siegte. Er war zwar sonst stärker als sie, aber nicht stärker als der Zauberbann, der sie nun gefangen hielt. Stück für Stück bewegte sich das weiße Dreieck des Quarzes zu ihrem Haar zurück. Der erschreckende Laut – Nnnnnnnnnn – kam wieder aus ihrem Mund.
    »Susan! Aufhören! Wach auf!«
    »Nnnnnnnn…«
    Ihr bloßer Arm bebte sichtlich in der Luft, die Muskeln wölbten sich wie feste kleine Steine. Und das Stück Quarz näherte sich immer

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