Der dunkle Turm - Gesamtausgabe
mehr ihrem Haar, ihrer Wange, ihrer Augenhöhle.
Ohne nachzudenken – so handelte er stets am erfolgreichsten – hielt Roland sein Gesicht dicht an ihres, wobei er der Faust, die den Stein hielt, noch einmal eine Handbreit nachgeben musste. Er legte die Lippen an ihre Ohrmuschel und schnalzte mit der Zunge am Gaumen. Schnalzte mit seitlich geöffnetem Mund, um genau zu sein.
Susan zuckte vor dem Geräusch zurück, das ihr wie ein Speer durch den Kopf geschossen sein musste. Ihre Lider bebten hektisch, und der Druck auf Rolands Hand ließ etwas nach. Er nutzte die Gelegenheit und drehte ihr das Handgelenk herum.
»Au! Auuuu!«
Der Stein fiel ihr aus der offenen Hand und platschte ins Wasser. Susan sah ihn hellwach an; Tränen der Bestürzung schossen ihr in die Augen. Sie rieb sich das Handgelenk… das, dachte Roland, wahrscheinlich anschwellen würde.
»Du hast mir wehgetan, Roland! Warum hast dum…«
Ihre Stimme erstarb, und sie sah sich um. Nun drückte nicht nur ihr Gesicht, sondern ihre ganze Körperhaltung Bestürzung aus. Sie wollte sich mit den Händen bedecken, dann wurde ihr klar, dass sie immer noch allein waren, und sie ließ sie wieder sinken. Sie sah über die Schulter zu den Spuren – allesamt von bloßen Füßen –, die zum Ufer führten.
»Wie bin ich hierher gekommen?«, fragte sie. »Hat Er mich getragen, als ich eingeschlafen war? Und warum hat Er mir wehgetan? Ach, Roland, ich liebe Ihn – warum hat Er mir wehgetan?«
Er nahm die Haarlocke, die noch auf ihrem Oberschenkel lag, und zeigte sie ihr. »Du hast einen scharfkantigen Stein genommen. Du hast versucht, dir damit das Haar abzuschneiden, und du wolltest unter keinen Umständen damit aufhören. Ich habe dir wehgetan, weil ich Angst hatte. Ich bin nur froh, dass ich dir nicht das Handgelenk gebrochen habe… jedenfalls glaube ich nicht, dass ich es getan habe.«
Roland ergriff es, drehte es behutsam in beide Richtungen und horchte nach dem Knirschen kleiner Knochen.
Er hörte nichts, und das Handgelenk ließ sich frei drehen. Vor Susans verwirrten und fassungslosen Augen hob er es an die Lippen und küsste die Innenseite über dem zarten Geflecht der Adern.
11
Roland hatte Rusher ausreichend weit unter den Weiden festgebunden, dass niemand, der zufällig über die Schräge ritt, den großen Wallach sehen konnte.
»Bleib ruhig«, sagte Roland, als er näher kam. »Sei noch ein Weilchen ruhig, mein Guter.«
Rusher stampfte und wieherte, als wollte er sagen, dass er bis ans Ende der Zeiten ruhig bleiben könne, sollte das erforderlich sein.
Roland öffnete die Satteltasche und holte das Stahlutensil heraus, das entweder als Topf oder als Bratpfanne diente, je nach Bedarf. Er wandte sich ab, drehte sich dann aber noch einmal um. Er hatte sein aufgerolltes Bettzeug hinter Rushers Sattel festgebunden – ursprünglich wollte er die Nacht auf der Schräge verbringen, um nachzudenken. Es war eine Menge passiert, worüber er nachdenken musste, aber jetzt war wohl noch mehr dazugekommen.
Er zog eine der Wildlederschnüre auf, schob die Hand ins Bettzeug und nahm dort ein kleines Metallkästchen heraus. Er öffnete es mit einem kleinen Schlüssel, den er um den Hals trug. Im Kästchen befand sich ein kleines quadratisches Medaillon an einer feinen Silberkette (das Medaillon enthielt eine Porträtzeichnung seiner Mutter) und eine Hand voll Ersatzpatronen – nicht ganz ein Dutzend. Er nahm eine davon, schloss die Faust darum und ging zu Susan zurück. Sie sah ihn mit großen, ängstlichen Augen an.
»Ich kann mich an nichts erinnern, was passiert ist, nachdem wir uns zum zweiten Mal geliebt haben«, sagte sie. »Nur, dass ich zum Himmel gesehen und gedacht habe, wie schön es war, und dass ich eingeschlafen bin. Oh, Roland, wie schlimm sieht es aus?«
»Nicht sehr, glaube ich, aber das kannst du besser beurteilen als ich. Hier.«
Er füllte den Kochtopf mit Wasser und stellte ihn ans Ufer. Susan beugte sich ängstlich darüber, legte das Haar der linken Kopfseite über den Unterarm und bewegte den Unterarm langsam von sich weg, wodurch sie die Haare zu einem strahlend goldenen Band spannte. Sie sah den unebenmäßigen Schnitt sofort. Sie begutachtete ihn gründlich, dann ließ sie das Haar mit einem Seufzer, der mehr Erleichterung als Gram ausdrückte, wieder sinken.
»Ich kann es verbergen«, sagte sie. »Wenn es geflochten ist, wird niemand etwas merken. Und außerdem, ’s ist nur Haar – nichts weiter als der
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