Der dunkle Wächter
hielt und ihr aufmunternde Worte zuflüsterte, die das Mädchen nicht verstehen konnte, erinnerte sich der Junge an die Geschichten, die die Seeleute über Begegnungen mit dem Tod erzählten, und dass, wenn einer einem anderen auf See das Leben rettete, ihre Seelen für immer durch ein unsichtbares Band verbunden blieben.
Allmählich wurde die Strömung schwächer, und Ismael konnte mit Irene im Schlepptau durch den Ausgang der Grotte in die Lagune schwimmen. Im bernsteinfarbenen Licht des Sonnenaufgangs, das sich den Horizont entlangzog, brachte der Junge sie ans Ufer. Als das Mädchen benommen die Augen aufschlug, blickte sie in Ismaels Gesicht, der sie lächelnd ansah.
»Wir sind am Leben«, murmelte er.
Irene fielen vor Erschöpfung die Augen wieder zu.
Ismael blickte ein letztes Mal in den Himmel und betrachtete das Morgenlicht über dem Wald und den Klippen. Es war das schönste Schauspiel, das er je in seinem Leben gesehen hatte. Dann sank er langsam neben Irene in den weißen Sand und überließ sich der Müdigkeit. Nichts hätte sie aus diesem Schlaf aufwecken können. Nichts.
11. Das Gesicht unter der Maske
Das Erste, was Irene sah, als sie aufwachte, waren zwei dunkle, undurchdringliche Augen, die sie eingehend musterten. Das Mädchen zuckte zusammen, und die Möwe flog erschreckt davon. Irenes Lippen fühlten sich rissig und trocken an, ihre Haut brannte, und es juckte sie am ganzen Körper. Ihre Muskeln kamen ihr wie Pudding vor und der Kopf wie aus Watte. Eine Welle der Übelkeit stieg ihr von der Magengrube bis in den Kopf. Als sie sich aufsetzte, stellte sie fest, dass dieses merkwürdige Brennen, das ihren Körper wie Säure zu zerfressen schien, von der Sonne kam. Sie hatte einen bitteren Geschmack auf den Lippen. Das undeutliche Bild einer kleinen Felsbucht drehte sich um sie wie ein Karussell. Sie hatte sich noch nie im Leben schlechter gefühlt.
Als sie sich erneut streckte, entdeckte sie Ismael neben sich. Hätte er nicht stoßweise geatmet, Irene hätte geschworen, dass er tot war. Sie rieb sich die Augen und legte dann ihre mit Schürfwunden übersäte Hand an den Hals ihres Gefährten. Puls. Sie streichelte Ismaels Gesicht, und wenig später schlug der Junge die Augen auf. Die Sonne blendete ihn einen Augenblick.
»Du siehst furchtbar aus«, murmelte er und lächelte mühsam.
»Du müsstest dich mal sehen«, erwiderte das Mädchen.
Wie zwei Schiffbrüchige, die der Sturm am Strand ausgespien hat, standen die beiden taumelnd auf und flüchteten sich in den Schatten eines herabgestürzten Baumstamms zwischen den Klippen. Die Möwe, die ihren Schlaf bewacht hatte, ließ sich erneut im Sand nieder. Ihre Neugier war noch nicht befriedigt.
»Wie spät mag es sein?«, fragte Irene, während sie gegen das wilde Pochen ankämpfte, das bei jedem Wort gegen ihre Schläfen hämmerte.
Ismael zeigte ihr seine Uhr. Das Zifferblatt stand voller Wasser, und der abgerissene Sekundenzeiger erinnerte an einen versteinerten Aal in einem Fischglas. Der Junge hielt beide Hände schützend vor die Augen und beobachtete die Sonne.
»Es ist Mittag vorbei.«
»Wie lange haben wir geschlafen?«, fragte sie.
»Nicht lange genug«, entgegnete Ismael. »Ich könnte eine ganze Woche am Stück schlafen.«
»Zum Schlafen ist jetzt keine Zeit«, drängte Irene.
Er nickte und suchte die Klippen nach einem möglichen Fluchtweg ab.
»Das wird nicht leicht. Ich kenne nur den Weg übers Meer in die Lagune…«, begann er.
»Was ist hinter den Felsen?«
»Der Wald, durch den wir gekommen sind.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Ismael betrachtete erneut die Klippen. Eine Wand aus spitzen steinernen Nadeln ragte vor ihnen auf. Diese Felsen zu erklimmen würde seine Zeit brauchen, ganz zu schweigen von den zahllosen Möglichkeiten, Bekanntschaft mit dem Gesetz der Schwerkraft zu machen und sich den Kopf zu zerschmettern. »Wie ein Ei, das auf dem Boden zerschellt«, dachte er. »Ein perfektes Ende.«
»Kannst du klettern?«, fragte er dann.
Irene zuckte mit den Schultern. Der Junge betrachtete ihre nackten, von Sand bedeckten Füße. Die weiße Haut an Armen und Beinen war völlig ungeschützt.
»Ich hatte Sport in der Schule und war eine der Besten beim Seilklettern«, sagte sie. »Ich nehme an, das ist dasselbe.«
Ismael seufzte. Ihre Probleme waren noch nicht ausgestanden.
Für Sekunden war Simone Sauvelle wieder acht Jahre alt. Sie sah wieder die kupferfarbenen und silbernen Lichter, die flüchtige
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