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Der dunkle Wächter

Der dunkle Wächter

Titel: Der dunkle Wächter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Ruiz Zafón
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sie spürte, war Dunkelheit. Bosheit.
    Das schleichende Gift der Angst begann ihre Adern zu durchströmen, doch Simone ignorierte ihre Warnzeichen, ergriff einen der Kerzenleuchter und näherte sich der Wand. Unzählige Zeitungsausschnitte und Fotografien bildeten eine Collage, die sich im Dunkel verlor. Ihr fiel auf, mit welcher Sorgfalt all diese Bilder an die Wand geheftet worden waren. Ein düsteres Museum der Erinnerungen entfaltete sich vor ihren Augen, und jeder dieser Ausrisse schien stumm von der Bedeutung zu erzählen, die hinter all dem steckte. Eine Stimme, die sich aus der Vergangenheit bemerkbar zu machen versuchte. Simone hielt die Kerze eine knappe Handbreit vor die Wand und ließ die Flut von Fotografien und Abbildungen, Wörtern und Illustrationen auf sich einströmen.
    Beim Überfliegen der Berichte blieben ihre Augen an einem vertrauten Namen hängen: Daniel Hoffmann. Der Name kam wie ein Schlaglicht aus ihrer Erinnerung zum Vorschein. Die geheimnisvolle Person aus Berlin, deren Korrespondenz sie Lazarus’ Anweisungen zufolge aussortieren sollte. Die merkwürdige Gestalt, deren Briefe, wie Simone durch Zufall herausgefunden hatte, in den Flammen gelandet waren. Doch etwas stimmte an der ganzen Sache nicht. Der Mann, von dem in diesen Artikeln die Rede war, lebte nicht in Berlin, und den Erscheinungsdaten der Zeitungen zufolge musste er mittlerweile in einem unwahrscheinlich hohen Alter sein. Verwirrt vertiefte sich Simone in den Text des Berichts.
    Der Hoffmann aus den Zeitungsartikeln war ein reicher Mann, unfassbar reich. Ein paar Zentimeter weiter berichtete
Le Figaro
auf der ersten Seite von einem Brand in einer Spielzeugfabrik. Hoffmann war bei dem Unglück ums Leben gekommen. Flammen schlugen aus dem Gebäude, und davor drängte sich eine Menschenmenge, die gebannt das grauenvolle Schauspiel beobachtete. Unter ihnen befand sich ein Junge, der mit verängstigten Augen verloren in die Kamera blickte.
    Derselbe Blick war auf einem anderen Ausschnitt zu sehen. Diesmal schilderte der Artikel die düstere Geschichte eines Jungen, der sieben Tage in völliger Dunkelheit in einem Keller eingesperrt gewesen war. Polizeibeamte hatten ihn entdeckt, nachdem sie seine Mutter tot in einer der Wohnungen vorgefunden hatten. Das Gesicht des Jungen, der knapp sieben oder acht Jahre zählen mochte, war ein bodenloser Abgrund.
    Ein heftiger Schauder durchlief ihren Körper, während sich die Bruchstücke eines unheimlichen Rätsels in ihrem Kopf zusammenzufügen begannen. Doch da war noch mehr, und die faszinierende Macht dieser Bilder war hypnotisierend. Die Zeitungsausschnitte schritten in der Zeit voran. In vielen war von verschwundenen Personen die Rede, Menschen, von denen Simone noch nie gehört hatte. Unter ihnen stach ein strahlend schönes Mädchen hervor, Alexandra Alma Maltisse, Erbin eines Stahlimperiums aus Lyon, die einer Zeitschrift aus Marseille zufolge die Verlobte eines jungen, aber angesehenen Ingenieurs und Spielzeugerfinders war, Lazarus Jann. Neben diesem Bericht zeigte eine Reihe von Fotografien das glückliche Paar beim Verteilen von Spielzeug in einem Waisenhaus in Montparnasse. Die beiden strahlten förmlich vor Glück. »Es ist mein fester Vorsatz, dass alle Kinder in diesem Land ungeachtet ihrer Lebenssituation ein Spielzeug besitzen sollen«, erklärte der Erfinder unter der Fotografie.
    Daneben zeigte eine andere Zeitung die Vermählung von Lazarus Jann und Alexandra Maltisse an. Das offizielle Verlobungsfoto war am Fuß der Freitreppe von Cravenmoore gemacht worden.
    Ein vor Jugend strotzender Lazarus umarmte seine Braut. Keine einzige Wolke trübte dieses traumhafte Bild. Der junge, umtriebige Lazarus Jann hatte das prächtige Anwesen erworben, um dort seinen ehelichen Hausstand zu gründen. Mehrere Bilder von Cravenmoore illustrierten den Artikel.
    Immer mehr Bilder und Zeitungsausschnitte reihten sich aneinander und vergrößerten diese Galerie von Personen und Ereignissen aus der Vergangenheit. Simone blieb stehen und machte kehrt. Das Gesicht dieses verlorenen, verängstigten Jungen ließ sie nicht los. Ihre Augen versanken in diesem verzweifelten Blick, und langsam erkannte sie darin den Blick wieder, in den sie Hoffnungen und Freundschaft gesetzt hatte. Es war nicht der Blick dieses Jean Neville, von dem Lazarus ihr erzählt hatte. Dieser Blick war ihr vertraut, schmerzlich vertraut. Es war der Blick von Lazarus Jann.
    Eine schwarze Wolke breitete einen Schleier über ihr

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