Der dunkle Wächter
Bilder aus Rauch in die Luft malten. Sie nahm den intensiven Duft des verbrennenden Wachses wahr, die flüsternden Stimmen im Halbdunkel, das unsichtbare Flackern hunderter Kerzen, die in diesem geheimnisvollen, wundersamen Palast brannten, der die Erinnerungen ihrer Kindheit verzaubert hatte: die altehrwürdige Kathedrale Saint Etienne. Doch der Zauber währte nur diese paar Sekunden.
Als ihre müden Augen wenig später durch die unheimliche Finsternis irrten, die sie umgab, begriff Simone, dass diese Kerzen nicht in einer Kapelle standen, dass die Lichtflecken, die auf den Wänden tanzten, alte Fotografien waren und die Stimmen ein fernes Flüstern, das nur in ihrem Kopf existierte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie sich weder im Haus am Kap befand noch an irgendeinem anderen Ort, an den sie sich erinnern konnte. In ihrem Kopf hallte ein unscharfes Echo der vergangenen Stunden wider. Sie wusste noch, dass sie sich mit Lazarus auf der Veranda unterhalten hatte. Sie wusste noch, dass sie sich ein Glas heiße Milch gemacht hatte, bevor sie zu Bett gegangen war, und sie erinnerte sich noch an die letzten Worte, die sie in dem Buch gelesen hatte, das auf ihrem Nachttisch lag.
Nachdem sie das Licht gelöscht hatte, erinnerte sie sich vage, von einem schreienden Kind geträumt zu haben, und an das merkwürdige Gefühl, mitten in der Nacht aufzuwachen und zu beobachten, wie die Schatten durch die Dunkelheit zu wandern schienen. Darüber hinaus verschwammen ihre Erinnerungen wie die Ränder einer unvollendeten Zeichnung. Ihre Hände berührten einen Baumwollstoff, und Simone wurde klar, dass sie noch ihr Nachthemd trug. Sie stand auf und näherte sich langsam der Wand, von der das Licht Dutzender weißer Kerzen zurückstrahlte, die sorgfältig in von wächsernen Tränen überzogenen Kandelabern aufgestellt waren.
Die Flammen knisterten gleichmäßig. Dieses Geräusch waren die Stimmen, die sie zu hören geglaubt hatte. Der goldene Widerschein all dieser brennenden Lichter weitete ihre Pupillen, und eine seltsame Helligkeit durchflutete ihren Geist. Die Erinnerungen kamen tropfenweise, wie ein Regenschauer bei Tagesanbruch. Mit ihnen kam der erste Panikanfall.
Sie erinnerte sich an die Berührung unsichtbarer Hände, die sie durch die Dunkelheit trugen. Sie erinnerte sich an eine Stimme, die ihr etwas ins Ohr flüsterte, während jede Faser ihres Körpers erstarrt war, unfähig, zu reagieren. Sie erinnerte sich an eine schemenhafte Gestalt, die sie durch den Wald trug. Sie erinnerte sich, wie dieser gespenstische Schatten ihren Namen geflüstert hatte und wie sie, starr vor Angst, begriffen hatte, dass all dies kein Alptraum war. Simone schloss die Augen und schlug die Hände vor den Mund, um einen Schrei zu unterdrücken.
Ihr erster Gedanke galt ihren Kindern. Was war mit Irene und Dorian geschehen? Waren sie noch im Haus? Hatte diese unbeschreibliche Erscheinung sie geholt? Mit herzzerreißender Macht brannten ihr diese Fragen auf der Seele. Sie lief dorthin, wo sie die Tür vermutete, und rüttelte vergeblich an der Klinke, sie schrie und heulte, bis Erschöpfung und Verzweiflung sie übermannten. Allmählich brachte eine kalte Gleichgültigkeit sie in die Wirklichkeit zurück.
Sie war gefangen. Wer auch immer sie mitten in der Nacht entführt hatte, hatte sie in diesem Raum eingesperrt und womöglich auch ihre Kinder in seine Gewalt gebracht. Der Gedanke, er könne ihnen wehgetan oder sie verletzt haben, lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Wenn sie etwas für sie tun wollte, dann musste sie jeden neuen Anflug von Panik unterdrücken und die Kontrolle über ihre Gedanken behalten. Simone ballte die Fäuste, während sie sich diese Worte immer wieder vorsagte. Sie atmete mit geschlossenen Augen tief durch, bis sie spürte, wie ihr Herz wieder im normalen Rhythmus schlug.
Dann öffnete sie die Augen wieder und sah sich aufmerksam um. Je rascher sie verstand, was hier vor sich ging, desto schneller würde sie hier rauskommen und Irene und Dorian zu Hilfe kommen können.
Das Erste, was ihr ins Auge fiel, waren die kleinen, schlichten Möbel. Kindermöbel, einfach geschreinert, fast schon ärmlich. Sie war in einem Kinderzimmer, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass dort schon lange kein Kind mehr lebte. Die Persönlichkeit, die diesen Ort fast greifbar durchdrang, strahlte Alter und Verfall aus. Simone trat ans Bett und setzte sich hin, um das Zimmer von dort aus zu betrachten. In diesem Zimmer gab es keine Unschuld. Was
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