Der Ego-Tunnel
Versuchsaufbau ist es also möglich, Informationen aus einem Typ von bewusstem Realitätstunnel in einen ganz anderen Typ zu übertragen, nämlich einen, den die Gehirne anderer Menschen erschaffen. Wir brauchen mehr gute empirische Forschung über das luzide Träumen. Eine plausible Annahme besagt beispielsweise, dass Luzidität davon abhängt, ob und in welchem Maße der präfrontale Kortex, in dem die Organisation unseres kognitiven und sozialen Verhaltens stattfindet und in dem auch die sogenannten Exekutivfunktionen (die willentliche Steuerung) ihren Sitz haben, eine stabile funktionale Verbindung zu anderen Hirnbereichen herstellen kann, die das bewusste Selbst des Traumzustands erzeugen. Man nimmt an, dass der präfrontale Kortex unsere Gedanken und Handlungen ordnet, indem er sie in Übereinstimmung mit unseren inneren Zielvorstellungen bringt. Er hat aber auch mit der Unterscheidung zwischen miteinander in Widerspruch stehenden Gedanken zu tun, mit Planen, mit der Einschätzung der zukünftigen Folgen gegenwärtiger Aktivitäten, mit der Vorhersage möglicher Ergebnisse, dem Erzeugen von Erwartungen und so weiter.
Interessanterweise scheint es also eine allgemeine Eigenschaft zu geben, die man haben kann oder auch nicht: »Zustandsklarheit«, das Wissen darüber, in welcher allgemeinen Art oder Kategorie von Bewusstseinszustand man sich gerade befindet. Allan Hobson, ein Psychiater und berühmter Traumforscher am Massachusetts MentalHealth Center und Autor des Buchs The Dreaming Brain , hat die Vermutung geäußert, dass für das Auftreten der Zustandsklarheit im Traum »der normalerweise deaktivierte dorsolaterale präfrontale Kortex (DLPFC) wieder aktiviert werden muss, allerdings nicht so stark, dass die in ihm einlaufenden pontolimbischen Signale unterdrückt werden«. 13 Es könnte genau dieser Teil des Gehirns sein, der es uns ermöglicht, uns auf uns selbst zu beziehen, indem wir uns mit reflexiven Formen des Denkens beschäftigen. Im Klartraum-Tunnel führt dies zur Wiederherstellung der willentlichen Kontrolle und dem erneuten Erscheinen eines echten Handelnden, eines vollständigen Agenten. Wenn Hobson recht hat, dann könnte der Moment, in dem wir den bewussten Gedanken »Mein Gott, ich träume ja!« haben, genau der Moment sein, in dem das Selbstmodell des Traumzustands wieder an den präfrontalen Kortex angeschlossen wird, was ein echtes reflexives Selbstbewusstsein wieder möglich macht und zur Wiederherstellung von kognitiver Agentivität führt. Besonders ermutigend finde ich, dass mit Martin Dresler nun ein junger deutscher Psychologe und Philosoph die klassische experimentelle Strategie auf einem höheren technischen Niveau wiederholt hat und dementsprechend auch zu wesentlich genaueren Ergebnissen über die neuronalen Korrelate des Luzidewerdens im Traum gekommen ist. 14
Einige Fragen für die zukünftige Forschung könnten sein: Was genau geschieht mit dem bewussten Selbst während des Übergangs von einem gewöhnlichen Traum in einen luziden Traum? Was sind im Detail die funktionalen Unterschiede zwischen dem Selbstmodell des Traumzustands und dem Selbstmodell des Klartraums? Könnte es auch so etwas wie »luzides Wachen« geben? Und was genau passiert bei einem falschen Erwachen?
Wie wir bereits gesehen haben, kann jedem von uns ein solches falsches Erwachen widerfahren. Dies wirft auf interessante und neuartige Weise ein klassisches philosophisches Problem auf, nämlich die Frage des Solipsismus (aus dem Lateinischen: solus , allein, und ipse , selbst). Wie genau kann ich die Hypothese des Skeptikers widerlegen, wonach die Inhalte meines eigenen Geistes das Einzige sind,von dem ich weiß, dass es wirklich existiert? Wie kann ich die Möglichkeit ausschließen, dass die Außenwelt – und insbesondere andere bewusste Geister – nicht erkannt werden können und vielleicht überhaupt nicht existieren? Hier ist zu guter Letzt ein weiteres kleines Gedankenexperiment aus dem Feld der Angewandten Tunnel-Erkenntnistheorie. Lassen Sie mich das Problem im Hintergrund jedoch zunächst einführen und illustrieren durch den Bericht über einen luziden Traum aus der Feder des verstorbenen deutschen Traumforschers Paul Tholey:
Mitten auf der Straße griff mich plötzlich ein übel aussehender Kerl mit erhobenem Knüppel an. Ich lief sofort weg, doch der Kerl verfolgte mich. Da rief vom Bürgersteig aus ein kleines Männchen, das ich zuvor gar nicht bemerkt hatte: »Schau dir doch den Kerl
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