Der Ehrengast
Fille aux Yeux d’Or
hätte ebensogut Schmidt oder Jones sein können; er schrieb etwas mit seinem silbernen Bleistift auf, läutete eine Glocke, ließ ein paar Papiere kommen. Während sie warteten, machte er Konversation. Bray hatte sie damit gehänselt, daß Goebbels und Göring ebenso wie Tschombe ihr Geld in Schweizer Banken hinterlegt hatten. Herr Weber war ein alter Mann – »Schon seit vierzig Jahren in diesem Institut«, erzählte er ihr lächelnd. Wo sie dennlebe? »Oh, Afrika muß interessant sein, ja? Ich wollte immer mal hin auf Besuch – aber es ist so weit weg. Meine Frau fährt gerne nach Italien. Es ist wunderschön. Und einmal waren wir in Griechenland. Das ist erst schön. Aber Afrika ist auch schön, nein?« Vielleicht hatte er mit Tschombe die gleiche Unterhaltung geführt, und mit der Frau in ihrem Sari und der Strickweste würde er es wohl ebenfalls tun – »Oh, Indien muß interessant sein, ja?« –, während er all die Jahre sicher zwischen seinen Familienphotos gesessen hatte.
Als die Papiere gebracht wurden, las er sie aus dem merkwürdigen Winkel, in dem Leute mit bifokalen Linsen lesen, und fragte sie, wieviel Geld sie denn abzuheben wünsche. Sie sagte, sie dächte, alles.
Er gab ihr den väterlichen Rat: »Möchten Sie’s nicht lieber jeweils dorthin überwiesen haben, wo Sie gerade hinfahren? Was ist denn das Ziel Ihrer Reise?«
Sie hatte bloß daran gedacht, hierher zu kommen: das war ihr Ziel gewesen. Sie sagte: »England.«
Sein kurzer, weicher Zeigefinger war ein Pendel. »Wissen Sie, daß Sie Ihr Geld nicht mehr herauskriegen, wenn Sie’s einmal nach England gebracht haben? Wenn Sie es hier in der Schweiz lassen, dann können Sie uns von überall in der Welt schreiben, und wir schicken Ihnen dann Geld. Es wäre besser, Sie würden nur das abheben, was Sie benötigen, und ich überweise Ihnen dann nach England, was Sie dort brauchen – wo ist es? London? – Sie können mir jede Bank nennen.«
»Irgendeine Bank – ich kenn keine.«
Sie unterzeichnete ein paar Papiere. Er notierte sich die Einzelheiten des Geldbetrages, den er von ihrem Konto an Jean-Louis Kamboya, Lubumbashi, überweisen sollte. »Kongo Kinshasa, nicht wahr?« Er war stolz darauf, den Unterschied zu kennen. »Mit einmal diesem Kongo und dann wieder dem anderen Kongo –« Er überreichte ihr den Abschnitt für den Kassenbeamten und schüttelte ihr die Hand. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt, gnädige Frau. Bedauerlicherweise ist das nichtgerade die schönste Jahreszeit. Sie sollten im Frühling kommen, nein?«
Unten zählten weiße Männerhände mit goldenem Ehering fünfzehnhundert Schweizer Franken in Noten aus und klammerten sie zusammen. Wie Loulous Mädchen hatte sie jetzt eine Vielfalt verschiedener Währungen bei sich.
Und nun war es getan. Ihre eigenen Schritte verhallten hinter ihr, als sie durch die großen Tore ging und Gestalten in Mänteln und Regenmänteln um sie herumeilten und ihr der Klang des Deutschen von fragenstellenden Kindern entgegenschlug. Nun hatte sie überhaupt kein Ziel mehr, und verwirrt stand sie vor den Läden mit Wildledermänteln und Krokodillederkoffern (echtes Leder, nicht wie das von Loulou), den großartigen Spielzeuggeschäften, Geschäften mit rosiger Salami und hufeisenförmigen Würsten darin, Schaukästen mit Stahl- und Gold- und Diamantuhren, Geschäfte mit Pelzstiefeln. An der Innenseite eines Fensters, in dem lauter Schalen voll Rosen, Lilien und Orchideen standen, strömte beständig Wasser herunter, vergrößerte sie und machte sie – wie die wilden Unterwassergärten in jenem anderen See, den sie hinter sich gelassen hatte, hinter den Linsen der Taucherbrillen – unerreichbar. In einer Konditorei kauften Frauen Kuchen und aßen sie an einem Tresen. Ein Heißluftstrom in der Tür hielt die Kälte draußen, und während sie in diesem von Vanille duftenden Raum, in dem sich jedermann an Süßigkeiten gütlich tat, eine Tasse Kaffee trank, beobachtete sie, wie Finger auf diesen oder jenen Kuchen zeigten, und spürte, wie ihre Beine von der Zentralheizung gewärmt wurden. Auf der Straße draußen ging sie an einem kleinen Platz mit einer flechtenüberwachsenen Statue vorbei, die von Blättern verdeckt war, die die Form von Händen und das Aussehen von Handschuhen aus Sämischleder hatten. Sie hatte noch nie einen Kastanienbaum gesehen, aber sie erkannte die »Conkers« wieder, die Kastanien, mit denen die Kinder in den englischen
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