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Der Ehrengast

Der Ehrengast

Titel: Der Ehrengast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine Gordimer
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weiter im Süden Afrikas mit Verspätung an, und zu dem Zeitpunkt, als es wieder abhob, war die Stadt entlang der Bucht ein glitzernder Halbmond, das Sportstadion eine Schale grünen Lichts, das Fort eine kippende Kulisse, und dann ein paar glühende Punkte, die wie Streichhölzer langsam auf dem Boden erloschen. Sie sah nichts von den Wäldern und Wüsten des Kontinents, den sie zum ersten Mal hinter sich ließ, obwohl der Mann im Sitz neben ihr zum Studium einer Landkarte, die zusammen mit dem Sick-Bag in die Tasche in der Rückenlehne des Vordersitzes gestopft worden war, seine Leselampe eingeschaltet ließ. Bräunlich schattierte Gebiete, grüne Landstriche: außerhalb des Doppelfensters tanzten kleine Wassertropfen auf und ab, und sie konnte nicht einmal die Dunkelheit sehen – nur ihr eigenes Gesicht. Die Stewardess schob einen Wagen mit Zeitungen und Zeitschriften vorbei, und da lag der Umschlag jenes Magazins, und als der Wagen wieder zurückkam, war es weg: irgendwo in den Reihen hinter ihr las jemand darin. Ihr Nachbar trank kleine FläschchenSekt mit einem Gehabe, als täte er’s eher aus Prinzip als wegen des Genusses, und zu einer Stunde, zu der endlich kein Essen mehr serviert wurde und man die Lämpchen schwächer gestellt hatte, drückte er den roten Knopf für die Stewardess und verlangte Mineralwasser. Da er wach war, nahm sie aus der Aktenmappe (neben ihr, zwischen ihren Beinen und der Wand des Flugzeugs) das halbe Blatt Schreibmaschinenpapier, auf dem in Brays Handschrift der Name der Bank stand, die Kontonummer und –
La Fille aux Yeux d’Or
. Sie hatte es oft studiert, seit sie ins Flugzeug gestiegen war. Wahrscheinlich war es das letzte, was er geschrieben hatte. Der Scheck für Hjalmar? Nein, das mußte davor gewesen sein. Aber sicher konnte sie es nicht wissen; sie wußte nicht, wann er sich dazu entschlossen hatte, die Einzelheiten über das Konto auf dieses Stück Papier zu bringen. Niemals würde sie wissen, ob dies die letzten Worte waren, die er geschrieben hatte:
La Fille aux Yeux d’Or
. Nichts außer den reinen Fakten – Adresse, Codename – stand da. Was konnte man aus der Form der Buchstaben entnehmen, aus den Zwischenräumen, die er gelassen hatte? Sie studierte es, so wie das Kind die Zeichnung des Mannes studiert hatte.
    Sie legte den Zettel wieder zurück in die Aktentasche. Neben ihr unterdrücktes Rülpsen.
    Wenn er die Details des Kontos (aus irgendeinem Notizbuch? aus der Erinnerung?) abgeschrieben hatte, dann natürlich, weil er sie ihr geben wollte. Damit sie wüßte, wohin sie zu gehen hätte. Wenn sie aber zusammen bleiben sollten, wäre es unnötig gewesen, daß sie das Papier bekam. Er hatte es in die Aktentasche gesteckt und nicht ihr gegeben. Wann hatte er es ihr geben wollen?
    Aber vielleicht war es schon lange in der Aktenmappe gewesen. Kein Notizbuch, keine Abhängigkeit vom Erinnerungsvermögen: aufbewahrt in der Aktenmappe, um zu den Akten gelegt und automatisch als Teil ihrer beider Papiere, die sie zusammen benötigen würden, bei der Abfahrt mitgenommen zu werden. Der Mann zu ihrer Seite schlief ein, und sie spürte, wie auch ihreGedanken davonglitten; da war ein unruhiger Fetzen Traumes, in dem Bray herumgeisterte, aber sie schreckte angsterfüllt in den Wachzustand zurück. Und nach Stunden oder einer kleinen Weile sah sie, während sie in das Dunkelblauschwarze hinausblickte, das jetzt klar war, eine am Rand einer dunkleren Masse entlangbrennende Verkrustung. Sie glaubte, ein Buschbrand, dann aber entdeckte sie das schmale Band eines Spiegels, der den Feuerschein mit seiner Reflexion begleitete. Das dort unten war die Küste – die Meeresküste mit kleinen Häfen, die die ganze Nacht bis in die frühe Morgendämmerung erleuchtet waren, während die Landmasse dahinter noch schlief. Nun sah sie schwarz glitzernde Dünungen aus Dunkelheit: das Meer.
    Der Mann neben ihr reckte in höflichem Abstand seinen Hals, um über ihre Schulter zu blicken. Er sagte: »Die Küste von Italien.«
    Sie war noch nie außerhalb Afrikas gewesen. Ein Gefühl intensiver Fremdheit erfaßte sie. In der Luft hier oben war es Tag. Dort unten schliefen die Menschen Europas weiter. Bald waren da unten in der kalten Sonne die Alpen, leuchtend und elegant. Die Passagiere erwachten wieder zum Leben, um sie sich anzusehen – ausgebreitet wie die Uhren im Schaufenster eines Juweliers.
    Ein schwarzes Taxi, ein Mercedes, brachte sie aus dem Glas und dem Schwarz des Flughafens in die

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