Der Ehrengast
Geschichtenbüchern ihrer Jugend gespielt hatten. Es fing an zu regnen; eine alte fette Frau verkaufte Maronen, die über der Glut eines flachen Kohlenbeckens,über dem ein Schirm aufgespannt war, geröstet worden waren. In der Straßenbahn, die den Hügel wieder hinauffuhr, saß sie zwischen den von morgendlichen Einkäufen heimkehrenden Hausfrauen, die sich mit ihrer Kleidung schon gegen den bevorstehenden Winter wappneten – mit Mänteln, Stiefeln, Schirmen, Handschuhen, alles komplett; selbst die kleinen Kinder in Gummistiefeln und den Anoraks, deren Reißverschlüsse bis oben zugezogen waren. Sie sahen so gelassen aus, so selbstverständlich auf alle Risiken ihrer Umgebung vorbereitet, in der alle Gefahren bekannt waren. Aber so war es natürlich nie: selbst diese feuchten, roten Nasen (selbst Herr Weber) konnten in ihren gesetzestreuen Federbetten Opfer des Einbruchs plötzlicher Liebe oder plötzlichen Todes werden.
Es war ihr so kalt, und sie fühlte sich so blutleer, daß sie in der Hotellounge ein Glas Rotwein bestellte. Sie war mit brüchigen Antiquitäten und Familienporträts möbliert und ging in einen kleinen Wintergarten über, wo die Pflanzen, die zu Hause in Afrika überall von sich aus wuchsen, von der Zentralheizung gewärmt und das Glas hinauf aus Blumentöpfen gezogen wurden. Ein junges Paar saß da und rührte die Schlagsahne auf ihrem Kaffee um und leerte dazu Schalen mit überzuckerten Beeren. Auf deutsch murmelten sie etwas wie: »Gut …?« »Oh, sehr gut« – und leckten traumverloren ihre Löffel ab. Das Mädchen trug Hosen, eine Strickjacke und dazu eine Perlenkette; sie war groß und schmalfüßig und wirkte distanziert. Der Mann, kleiner als sie, schien sich in seinem eher eleganten Straßenanzug nicht ganz wohl zu fühlen und hatte schon ein sorgenvolles, kleines Doppelkinn, das sich unter seinem glatten Gesicht abzeichnete. Das Mädchen gähnte, und er lächelte. Die Unterhaltung war in eine Sackgasse geraten, und sie legten die Teilnahmslosigkeit eines jungverheirateten Paares an den Tag, das noch nie zuvor geliebt hat. »Sehr gut«, sagte er wieder und stellte seinen Becher aufs Tablett.
Der Wein stieg ihr in einer singenden Empfindung zu Kopf, und sie stellte sich vor, wie sie auf ewig höflich um einen Kaffeetischsitzen würden – er allmählich immer fetter und grauer werdend, sie unerlöst aus ihrer Distanz, während ihre Kinder groß wurden und darauf warteten, dort ihre Plätze einzunehmen. Plötzlich hörte sie das Ticken einer dekorativen Uhr, die die Stille im Raum zwischen ihr und dem Paar auszählte.
UND SO KAM sie nach England; sie flog über eine graue See, auf der Schaum wie Speichel dahintrieb, eine See, in die sich die Kloaken Europas entleerten, über die grauen Blöcke europäischer Städte.
Ihre Eltern lebten da. Aber das bedeutete nicht mehr als eine Adresse, an die sie Briefe geschrieben hatte, und nicht etwa einen Ort, der wahrscheinlich nicht weiter als eine Stunde Fahrt von den Straßen Londons entfernt lag, die sie nun kannte und auf denen die Menschen in einen immer mehr sich verdichtenden Nebel hineinschritten, wie hinaus über den Rand der Welt. Sie versuchte nicht, mit ihrer Familie Kontakt aufzunehmen. Sie wanderte durch die Straßen und fuhr in Bussen, um all die Dinge zu sehen, die für diese Stadt standen. Hieß es in einer Gasse etwa: »Zum Haus von Samuel Johnson«, so nahm sie sie; entdeckte sie eine Broschüre, kaufte sie sie. Sie wartete auf den steilstufigen Zugängen der Untergrundbahnstationen und stieg hinab ins Dunkel. Sie ging über Brücken und roch den Moschusgeruch der Kirchen. Sie ging vorbei an den Pubs, voll von bierfarbenem Licht, in denen sich die Leute zusammendrängten und einander berührten. Sie war unter ihnen in den Zügen, in denen sie gedrängt standen, ohne einander zu berühren. Sie las die Werbebotschaften: in der Untergrundbahn ein Mädchen, das Schlüpfer aus Papier zwischen Daumen und Zeigefinger hielt: »Geben Sie Ihre Schmutzwäsche dem Mann von der Müllabfuhr«, in der Apotheke in Soho: »Schwangerschaftstest – 24-Stunden-Service«. Abseits der Old Compton Street ging sie in einem Antiquariat die Reihen der Buchtitel in einem Karren durch; die Gesichter der greisen Sandwichmänner unter dem Joch der Plakate; die Aufreißer auf Ausschau, die wie Geschäftsaufseher vor den Striplokalen standen.
Sie wanderte zwischen den Pfützen eines Springbrunnensund den Beinen der Leute umher, die den ganzen
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