Der Eid der Heilerin
eine gute Partie, denn der Graf hatte keine Söhne. Obwohl sie erst vierzehn und Clarence mehr als sieben Jahre älter war, hatte er bereits seit ihrem zwölften Lebensjahr ein Auge auf sie geworfen.
»Er wird der Heirat niemals zustimmen.«
»Warum nicht?« Der Herzog stampfte mit dem Fuß auf. Anne konnte ihn ganz deutlich sehen. Er starrte zornig in die Dunkelheit, als lauerte dort sein Bruder, der ihn zum Kampf herausfordern wollte. Warwick zuckte vielsagend die Achseln. Dazu wollte er sich lieber nicht äußern.
»Ich kenne seine Schliche. Er hat Angst vor mir!« Clarence hatte eine durchdringende Stimme, und Warwick sah sich nervös um, ob jemand sie hören konnte.
»Angst?«, fragte der Graf.
»Warwick, wo habt Ihr nur Euren Verstand? Mein werter Bruder Edward weiß, dass er niemanden hat, der die Thronfolge sichert. Alle hassen die Königin, auch wenn sie wieder schwanger ist. Aber wenn ich Isabelle heirate, fallt der ganze Norden an uns. Und das wäre eine ernsthafte Bedrohung, oder nicht? Ihr habt dem einen Bruder auf den Thron geholfen - warum nicht auch dem anderen?«
Warwick antwortete etwas Unverständliches, aber Anne konnte sein Gesicht sehen, auf dem für den Bruchteil einer Sekunde Triumph aufblitzte. »Das sind Wunschträume, fürchte ich, Euer Gnaden. Sicher, das Volk murrt auf, und Gesetzlosigkeit macht sich breit. Es heißt, Euer Bruder verbringe viel Zeit im Bett der Königin.«
Der Herzog schnaubte. »Und in vielen anderen.«
Anne zuckte zusammen. Sie hörte nur ungern, was den meisten völlig selbstverständlich erschien.
Wieder zuckte der Graf die Achseln, dann wechselte er das Thema. »Jedenfalls braucht das Land eine starke Hand, und unser König scheint sich schwer zu tun, die Kunst des Regierens zu erlernen.«
»Und die verfluchten Wydevilles sind wie ein Heuschreckenschwarm, der das Fundament dieses Königreichs auf- frisst. Warwick, ich kann das nicht länger dulden.«
»Wir werden sehr vorsichtig vorgehen müssen, Euer Gnaden. Sachte und langsam. Aber ich werde Mittel und Wege finden, dass Ihr Isabelle bekommt. Das verspreche ich Euch.«
Als die beiden Männer sich aus der Kapelle entfernten, hingen die letzten Worte des Grafen wie Rauch durch die kalte Nachtluft. Anne rührte sich nicht vom Fleck, bis sie sicher sein konnte, dass die beiden gegangen waren. An Andacht war nicht mehr zu denken. Aufgewühlter denn je zuvor, schlich sie hinaus.
Tief in Gedanken versunken kehrte Anne zu dem kleinen Dienstbotenzimmer zurück, das sie mit den anderen Zofen teilte, als sie gegen eine Gestalt in edlem Samtrock prallte. Es war Edward, der verschlafen und mit wirrem Haar aus dem Bett der Königin kam und sich mit einer Kerze in der Hand auf dem Weg in seine eigenen Gemächer befand. Annes Angstträume waren schlagartig Wirklichkeit, und bevor sie sich versah, schlug sie mit Tränen in den Augen ein Kreuz. Doch dann begriff sie. Es war kein Traum, er stand leibhaftig vor ihr. Schnell ließ sie die Hand sinken und hoffte, dass er in der Verwirrung des Augenblicks nichts bemerkt hatte. Bebend deutete sie einen hektischen Knicks an und versuchte, an ihm vorbeizuhuschen. Doch er streckte träge den Arm aus und hielt sie auf.
»Sieh an ... es ist dunkel und sehr spät. Besser gesagt, sehr früh. Und wen haben wir da? Anne, die von einem Stelldichein zurückkommt?«
»Nein, Sire!« Anne war froh, dass er sie im dunklen Flur nicht gut sehen konnte, denn das Blut schoss ihr in Hals und Gesicht. »Nein? Woher dann?«, fragte der König belustigt. Anne schwieg. »Äußerst rätselhaft, hübsches Kind.« Seine Hand, die ihre Flucht unterbunden hatte, ruhte leicht auf ihrer Schulter. Er machte einen Schritt auf sie zu, so dass er zwischen ihr und der Tür zum Schlafraum stand. Anne zitterte, schloss unwillkürlich die Augen und schluckte. Er lächelte, trat noch näher und zog sie sanft an sich, so dass sich ihre Körper berührten. Er streichelte ihren Rücken. »Nun, wo bist du so spät gewesen?«
Einen Augenblick lang ließ sich Anne von seinen Worten einlullen und lehnte sich gegen seine breite Brust. Bei der Berührung strömte ein köstliches Gefühl durch ihren Körper. Sie sehnte sich unendlich danach, dass er sich zu ihr herunterbeugte und ... doch als seine Hand unter ihren Mantel glitt, sich auf ihre Hüfte legte und sie enger an sich zog, begriff sie blitzartig, dass sie dem Ganzen ein Ende setzen musste. »Nein ...« Es bereitete ihr unendliche Qualen, dieses Wort zu flüstern.
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