Der Eid der Heilerin
Schweigen wurde die Mitteilung mit Applaus begrüßt, ehe lebhaft debattiert wurde, was das zu bedeuten hatte. War es als Ehrbezeugung gegenüber einem verdienten Grafen gedacht, oder sollte es eine Warnung sein? Welche Mannschaft auch gewinnen mochte, für beide Seiten stand viel auf dem Spiel, was dem Wettkampf einen zusätzlichen Reiz verleihen würde.
Anne, die am Ende der Festtafel schweigend zwischen ihren Kameradinnen saß, spürte, wie ihr Herz sich angstvoll zusammenzog. Sie hatte noch nie ein Turnier miterlebt, aber viel darüber gehört. Inszenierte Wettkämpfe waren ein beliebter Zeitvertreib, aber nicht ungefährlich, auch wenn nur mit stumpfen Schwertern gekämpft wurde. Anne spürte Angst um den König in sich aufkeimen. Und um das Königreich.
Vielleicht lag es am starken Wein, vielleicht auch an der unverminderten Anspannung und inneren Erschöpfung, die sie in der Gegenwart des Königs verspürte, dass Anne beim Zubettgehen von düsteren Schreckensbildern heimgesucht wurde. Männer schlugen mit Schwertern und Äxten aufeinander ein, scharfe Klingen und blitzendes Eisen klirrten, und der Boden tränkte sich mit Blut. Die Schreie sterbender Rösser erfüllten die Luft mit unsäglichen Qualen, doch Anne konnte den Blick nicht abwenden, denn sie stand im Mittelpunkt des Geschehens, und dort, inmitten des schrecklichen Gemetzels, war Aine, die Schwertmutter. Und Anne war dankbar, so dankbar, dass Aine das Gesicht abwandte, denn Arme und Brustpanzer der Göttin waren rot von Blut, und wenn sie sich umdrehte, dann ... Doch Anne wankte unversehrt durch das Kampfgetümmel und Geschrei davon, nur einen Gedanken im Herzen: Sie musste Edward finden, bevor es zu spät war ...
Zu spät... wofür? Plötzlich stand die Schwertmutter vor ihr. Langsam wandte sie Anne das Gesicht zu, und das Mädchen sah mit brechendem Herzen Edward zu ihren Füßen liegen, verwundet und blutend ...
Anne zwang sich aufzuwachen. Ihr Herz hämmerte, und ihr Atem brannte in ihren Lungen. Das riesige Schloss war still und dunkel, aber die Schreckensbilder hallten noch immer in ihr wider, und sie spürte mit überwältigender Gewissheit, dass Edward in Gefahr schwebte und Hilfe brauchte.
Als ihr Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, wusste Anne, was sie zu tun hatte. Leise stand sie auf, streifte sich ein Hemd über den nackten Leib, hüllte sich in einen dicken Kapuzenmantel und stahl sich aus dem Dienstbotenzimmer. Auf Filzpantoffeln huschte sie lautlos zu der kleinen normannischen Kapelle des Schlosses, kniete im dunklen Chorgestühl nieder und betete für Edwards Sicherheit, ohne die Tränen zu bemerken, die ihr übers Gesicht rannen.
Bis auf ein Licht vor dem Tabernakel war es stockdunkel in der Kapelle. Aus den dicken Mauern drang die Kälte, und Anne zog zitternd den Mantel enger um sich. Sie versuchte, sich zu sammeln, sich auf den Gott der Christen zu konzentrieren, aber es fiel ihr schwer, sich ins Gebet zu versenken und den Herrn zu erreichen, denn im Geiste sah sie nur das Gesicht des Königs, der sterbend die Augen schloss. Entsetzt kniff sie die Augen zusammen, als sie plötzlich ein Flüstern hörte.
Jemand hatte die Kapelle betreten. Dem Klang ihrer Stimmen nach mussten es zwei Männer sein. Anne duckte sich ins Chorgestühl, um nicht gesehen zu werden. Als sie endlich wagte aufzusehen, blitzte dicht vor dem Altar etwas Goldenes auf. Einer der beiden Männer hatte seine Kapuze zurückgeschlagen und das Gesicht dem Licht zugewandt. Annes Herz machte einen Satz. Der König! Dann erkannte sie ihren Irrtum. Es war George, der Herzog von Ciarence - der jüngere Bruder des Königs -, und der andere Mann war Graf Warwick.
Anne zitterte vor Angst. Der Graf hatte eine Hand auf die Schulter des Prinzen gelegt und redete eindringlich mit ihm. Aus dem finsteren Ausdruck auf Ciarence' Gesicht schloss Anne, dass der Herzog mit dem Gesagten nicht einverstanden war.
Aus dieser Entfernung konnte man ihn leicht mit seinem älteren Bruder verwechseln - beide waren groß und blond -, bei näherem Hinsehen jedoch verschwand die Ähnlichkeit. Sein Haar war nicht ganz so hell, er hatte - im Gegensatz zu Edward - eine unreine Haut, und um seinen Mund lag ein trotziger Zug. Er ließ sich leicht aus der Fassung bringen und machte auch keinen Hehl aus seiner Neigung zur Unbeherrschtheit, eine törichte Eigenschaft für das Leben am Hof.
Der Hofklatsch wusste zu berichten, dass er Warwicks älteste Tochter Isabelle heiraten wollte. Sie war
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