Der Eid der Heilerin
mehr, eine Antwort auf ihre Frage zu bekommen.
In der zweiten Nachmittagsstunde dieses trüben Novembertags wartete Anne inmitten der dicht gedrängten Schar von Höflingen und Dienstboten an der Anlegestelle des Palasts. An ächzenden Ulmenpfosten lag die rot und golden herausgeputzte, königliche Barke mit ihren flatternden Leopardenwimpeln. Die zwanzig Mann starke Besatzung wartete frierend, endlich ablegen zu dürfen. Hinter der Barke des Königs war noch ein weiteres Boot vertäut, dessen Wände das königliche Wappen zierte, das ansonsten aber eher schlicht wirkte. In diesem Boot sollten das Gepäck und einige Leibdiener reisen.
»Anne? Da bist du ja.« Sie drehte sich um und sah Doktor Moss vor sich stehen. »Aufgeregt?«
»O ja, Sir. Ich bin noch nie in Windsor gewesen. Es heißt, die Landschaft dort sei wunderschön. Ich freue mich schon auf Spaziergänge im Park, wenn mir das gestattet ist.«
»Ich werde sehen, was ich machen kann, damit dein Wunsch in Erfüllung geht.« Unwillkürlich sprach der Doktor herzlicher als beabsichtigt. Das Mädchen wurde langsam erwachsen. Auch verlieh ihr das Leben am Hof einen gewissen Schliff und eine größere Gewandtheit in der Konversation. Mittlerweile schien sie ihm unbefangener gegenüberzutreten, was für sie beide von Nutzen sein könnte. Sie machte eine durchaus gute Figur: Ihr rotes Dienstkleid stand in hübschem Kontrast zu dem Grau ihres Mantels. Sie gehörte zu jenen Mädchen, denen fast jede Farbe gut stand. Moss tätschelte ihr onkelhaft die Schulter, wobei ein kurzes Aufflackern von Begehrlichkeit seine Gedanken durchzuckte.
Anne lächelte schüchtern, obwohl sie ein wenig überrascht war. Doktor Moss war meist eher abweisend, wenn sie sich zufällig über den Weg liefen, weshalb ihr seine Herzlichkeit und sein aufrichtiges Interesse etwas ungewöhnlich erschienen.
»Doktor Moss, kennt Ihr eine Anne? Eine der Leibdienerinnen der Königin?« Ein junger Knappe mit dem Wappen und der Uniform von Lord Hastings war neben den Doktor getreten.
»Das ist sie, junger Mann.«
Wichtigtuerisch drehte sich der Knabe zu Anne um - und errötete. »Ah, mein Master, also Lord Hastings, hat im Auftrag der Königin angeordnet, dass du ... dass du ...«, stammelte er verlegen. Niemand hatte ihm gesagt, dass er nach einer solchen Schönheit suchen sollte.
»Nun, Junge, komm zur Sache.« Der Doktor war belustigt.
»Die Königin naht, Mädchen.« Unwillkürlich machte der Knabe eine Verbeugung, ehe er sich im Stillen einen Narren schalt. Er war Roger de Lascelles, ein Mann aus guter Familie, und dieses Mädchen war nur eine Dienerin. Sie kam vielleicht für eine Tändelei in Frage, verdiente aber kaum die höfischen Formen, die er einer Ritterstochter oder einer Lady erweisen würde. Sein wiedergefundener Stolz und das Gefühl seiner gesellschaftlichen Überlegenheit verliehen seinen nächsten Worten einen barschen Klang. »Sieh zu, dass du auf die königliche Barke kommst.«
Anne machte schweigend einen Knicks vor dem rotgesichtigen Knaben, der sich bereits zum Gehen wandte. Sein veränderter Tonfall hatte sie ein wenig verwirrt, aber da sie die Fahrt auf dem Fluss kaum erwarten konnte, schenkte sie seinem merkwürdigen Benehmen keine weitere Beachtung. Der Doktor lachte, worauf sie sich zu ihm umdrehte. »Warum lacht Ihr?«
»Über uns, Anne, über uns. Wir sind schon eine seltsame Spezies.«
In diesem Augenblick strömte eine große Menschenmenge zum Flusstor, in ihrer Mitte der König und die Königin.
William Hastings geleitete sie auf ihre Barke. Im Gedränge wurden Doktor Moss und Anne getrennt. Anne, die von recht zierlicher Gestalt war, wurde von der Menge immer näher an die Stufen zum Wasser gedrängt. Als mehr und mehr Höflinge durch das Tor drängten, glitt sie plötzlich auf den Stufen aus und verlor das Gleichgewicht. Unter ihr wogte das schwarze Wasser der Themse, und einen kurzen, Schwindel erregenden Augenblick lang fürchtete sie, zwischen Kai und Barke zu stürzen - als sie von einer starken Hand zuerst am Arm, dann um die Hüfte gepackt und energisch wieder hochgezogen wurde.
Als Anne den Kopf hob, blickte sie direkt in die Augen des Königs. Er lächelte auf sie herab, während sein Körper von der Menge gegen ihren gepresst wurde. Mit einer eleganten Bewegung drehte er sie vom Treppenabsatz fort und ließ sie los. »Das war gefährlich, Mädchen. Du hättest zerquetscht werden können.« Mit diesen Worten verschwand er im Gedränge.
Doktor
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